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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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er dort sein ganzes Leben gewohnt hatte, fühlte er sich dort nicht zu Hause. Er konnte sich jederzeit vorstellen, in Majorstuen auszusteigen, um eine mittelgroße Wohnung zu beziehen, gemeinsam mit Elisabeth und all ihren Mitbringseln aus Rußland und mit Annika im Schlepptau. Das wäre ein schönes Leben und wesentlich praktischer. Die Menschen waren ja völlig verrückt, wenn es um einen Panoramablick ging. Sie waren total fixiert darauf, ein Stückchen Fjord zu sehen. Als verberge sich das Glück in dieser Aussicht, als hinge der Sinn des Lebens allein davon ab, daß man eine Birke fällte. Der Fahrer bog in den Dagaliveien ein. Er gehörte nicht zu den gesprächigen Typen. Sicher ein Osteuropäer mit schwieriger Vergangenheit. Was würde mit diesem Land geschehen, dachte er, in das immer mehr Kriegsopfer kamen, vergewaltigte Frauen, Männer, die Mörder waren, und Kinder, die nie erlebt hatten, was Sicherheit ist. Vor einem Jahr waren rumänische Einbrecher bis in den oberen Stock zu Tulla und Kaare vorgedrungen, aber Tulla hatte ihre Erfahrung als Stewardeß genutzt und die beiden, es waren blutjunge Burschen, derart angebrüllt, daß sie die Flucht ergriffen. Er bezahlte das Taxi und ging hinauf zum Haus, das in der Herbstnacht abgesehen von einem Licht im oberen Stockwerk dunkel dalag, Tulla und Kaare waren sicher schon zu Bett gegangen.
    Er hoffte, daß Elisabeth noch auf war. Es war trostlos, der letzte zu sein, der zu Bett ging, obwohl, Annika schlief ja nie. Als er im Flur stand, sah er, daß Annika an dem kleinen Erkerfenster saß und ein Buch las. Sie schaute auf, als er die Tür hinter sich schloß, und fragte sofort, wie es gegangen sei. Er warf einen Blick auf den Buchtitel, es war einer dieser seltsamen Krimis mit Serienmördern, die denMarkt überschwemmten und nicht grausam genug sein konnten.
    »Line wurde professionell zusammengenäht«, lächelte er. »Der Schnitt war zum Glück nicht kompliziert.«
    »Wie sie nur so ungeschickt sein konnte«, sagte Annika kopfschüttelnd.
    »Es kommt ja auch nicht jeden Tag vor, daß eine Flasche auf diese Weise zerbricht«, antwortete er. »Wo ist Mama?«
    »Sie hat sich hingelegt«, sagte Annika und schaute ihn traurig an.
    »Findest du, daß Mama zur Zeit müde aussieht?« sagte er und setzte sich für einen Moment zur Tochter.
    »Wenn du das so sagst«, sagte Annika. »Sie wird schneller müde als früher. Woran liegt das, Papa?«
    Er setzte sich in Arztpositur, leicht nach vorne gebeugt, Handbewegungen, die Autorität ausdrückten. »Das ist nichts Ungewöhnliches im Herbst«, sagte er. »Besonders, wenn der Sommer schlecht war.«
    Und dieser Sommer war ja in der Tat gräßlich gewesen. Drei Wochen in einem zugigen Sommerhäuschen und kein Tag Sonne. Er hatte zum ersten Mal nicht im Meer gebadet und nachts gefroren. Annika und Line waren mitgekommen. Eigene Pläne für die Sommerferien hatten sie beide nicht, und keine hatte jemals versucht, einen Ferienjob zu kriegen. Sie benutzten die Sommer, um alte Rituale zu beleben, endlose Yatzy-Turniere, Federball auf dem kleinen Grasplatz, Wanderungen am Ufer entlang zu den üblichen Orten bis hinaus zu den glatten Küstenfelsen, zum Leuchtturm, zu den alten Schützengräben aus dem Krieg. Ja, wenn er zurückdachte, hatte Elisabeth einen müden Eindruck gemacht.
    Oft hatte sie einfach an dem großen Fenster gestanden, den Blick hinaus auf die Brandung und die Wellen gerichtet. »Woran denkst du?« hatte er gefragt. Sie hatte sich zu ihm umgedreht und gelächelt. »Ich denke daran, wie glücklich ich bin, daß ich euch habe«, hatte sie gesagt, und er hatte ihr geglaubt, vielleicht, weil sie wieder angefangen hatten, miteinander zu schlafen, weil für ihn das, was die Mädchen als Müdigkeit wahrgenommen hatten, ein Ausdruck von Ruhe und Harmonie war. Sie war schließlich in einem Alter, wo man sich mehr Ruhe gönnen durfte.
    Er verlangte nichts von ihr. Die Kinder auch nicht. Bis zu diesem Abend hatte er geglaubt, sie genieße das. Aber jetzt beunruhigte ihn, was die Mädchen sagten, und er sah an Annikas Gesicht, daß er sie nicht hatte überzeugen können.
    »Vielleicht ist sie hin und her gerissen, ob sie sich auf ihren sechzigsten Geburtstag freuen soll oder ob ihr davor graut«, meinte er leichthin.
    Annikas Gesicht hellte sich auf. Damit konnte sie etwas anfangen.
    »Natürlich«, sagte sie erleichtert. »Das könnte stimmen. Ich erinnere mich, wie unerträglich sie vor ihrem fünfzigsten Geburtstag war.

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