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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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gesprochen, nicht mehr zur Mammographie zu gehen. Sie hatte ja durchaus recht, daß es sinnlos viele Fehldiagnosen gab. Daß man Geschwulste operativ entfernte, die ungefährlich waren. Grundlos wurden Brüste entfernt. All das wußte er natürlich. Aber was half es? Wie gerne hätte er Line von dem Knoten erzählt, den er bei Elisabeth gespürt hatte, und seine Befürchtungen mit ihr geteilt. Aber das war unmöglich. Elisabeth hätte ihm das nie verziehen.
    Er mußte mit Elisabeth reden! dachte er verzweifelt und erzählte dabei seiner Tochter, daß es keinen Grund gab, sich wegen Mama Sorgen zu machen, daß sie so fit war wie nie zuvor, daß sie sich auf ihren sechzigsten Geburtstag freute.
    »Und was wird aus Chicago?« frage Line.
    »Natürlich fliegen wir nach Chicago, alle zusammen«, antwortete er.
    »Ich habe ein ungutes Gefühl beim Gedanken an diese Reise«, sagte sie und starrte mit leerem Blick auf den Fußboden.
    »Warum denn das?«
    »Ich weiß es nicht. Nur so ein Gefühl.«
    Er wußte nicht, was er sagen sollte. Die Töchter hatten so eine Art, die ihn verstummen ließ. Außerdem war es sinnlos, mit Line über Gefühle zu reden. Nicht jetzt. Nicht an diesem Abend, nach allem, was passiert war. Sie mußte schlafen. Sie war sicher todmüde.
    »Du willst also wirklich nicht mit mir nach Hause kommen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin lieber hier. Keine Angst, Papa, ich werde im Nu eingeschlafen sein.«
    »Davon bin ich überzeugt«, sagte er und erhob sich.
    Er küßte sie auf die Wange und ging zum Aufzug. Sie schaute ihm nach, bis er drinnen war. Sie stand in der Wohnungstür und hielt seinen Blick fest, bis sich die Türen schlossen und er nach unten verschwand mit dem immer wieder gleichen, schmerzhaften Gefühl wie damals, als die Mädchen klein waren und er sie bei einem schlechten Babysitter ließ oder bei Tulla und Kaare im oberen Stockwerk. Damals lag ein Vorwurf in ihrem Blick. Hatte sie ihm jetzt auch etwas vorzuwerfen? Er wußte jedenfalls nicht, was es sein könnte. Die Mädchen hatten allerdings beide eine unbestechliche Erinnerung. Line erinnerte sich an Vorfälle, die stattgefunden hatten, als sie vier Jahre alt war. Sie vergaß keine Ungerechtigkeit, die man ihr angetan hatte. Auch die kleinste Benachteiligung war für alle Zeit archiviert. Genauso war es bei Annika. Aber Line war diejenige, die ihre Gefühle so lange versteckte, bis sie es schließlich nicht mehr aushielt. Dann explodierte sie. Sie vergaß nie, daß sie nicht genauso selbstverständlich ins Elternschlafzimmer gedurft hatte wie ihre große Schwester. Zwischenzeitlich steigerte sie sich in ein »Ich-bin-allein-auf-der-Welt-und-niemand-versteht-mich«-Gefühl, das sowohl Elisabeth wie auch ihn verrückt machte. Deshalb war es auch so schwierig für ihn, finanzielle Angelegenheiten zu besprechen, wieviel sie für die Wohnung bezahlen sollte, wie man die ungeklärte Situation in Zukunft behandeln wollte.
    Sie redete zwar selten über Gegenwartsprobleme, erinnerte sich dafür aber ständig an irgendeine mit acht, zwölf oder fünfzehn Jahren. Ein Ereignis in den Ferien oder an Weihnachten oder an irgendeinem Wochentag, das völlig ungeahnte Proportionen angenommen hatte und sich in massive und meist völlig unerwartete Vorwürfe gegen ihn oder Elisabeth verwandelte. Diese Episoden kamen immer wieder. Daß sie irgendwann nach dem gravierende Situation , Nußknacker nicht von der Oper abgeholt worden war. Daß niemand sie zum Zahnarzt begleitet hatte, als ihr ein Weisheitszahn gezogen wurde. Daß Elisabeth im Auftrag von Telenor in Moskau gewesen war und Thomas auf einem Ärztekongress in London, als sie eine wichtige Schultheateraufführung gehabt hatte. Daß sie ein viel minderwertigeres Geschenk bekommen hatte als Annika an dem Weihnachten, als die große Schwester ihr erstes Fahrrad bekam. Wenn sie sich viele Jahre später daran erinnerte, entstanden erregte Wortwechsel. Elisabeth und Thomas beteuerten dann jedesmal, daß sie derartige Probleme niemals bedacht hatten. Dann schnaubte sie, als sei die Zeit stehengeblieben, seit sie neun Jahre alt war, und erklärte, daß das um so mehr darüber aussage, wie gedankenlos und desinteressiert sie gewesen waren. Aber waren Elisabeth und er wirklich gedankenlose und desinteressierte Eltern? Selbst in diesem Moment, im Taxi auf dem Heimweg, begriff er nicht, welches Unrecht sie Line angetan haben sollten.
     
     
    Das Taxi schlängelte sich den Holmenkoll-Hügel hinauf. Obwohl

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