Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
erfahren. Körper voller Krebsgeschwüre, innere Organe, die nicht mehr funktionierten. Amputationen, Bestrahlungen, Chemo, Digitalis. Schließlich gab es nur noch die Augen. Ein Aufblitzen darin. Die Seele, die sich für Sekunden zeigte. Aber auch wenn die Seele in dieser Phase stark war, gaben die inneren Organe den Ausschlag. Ein krankes Herz. Ein Gehirn in Blut getaucht. Eine Leber voller Knoten. Plötzlich war Schluß.
Er war wie immer der erste in der Gemeinschaftspraxis. Nachdem er die Heizung kontrolliert und die Kaffeemaschine in Gang gesetzt hatte, kamen die Sprechstundenhilfen.
Er schätzte sie alle drei. Sie waren seit zehn Jahren bei ihm. Sie kannten seine Stärken und Schwächen. Zum Ärzteteam verhielten sie sich wie freundliche und manchmal standhafte Feen. Sie behandelten die Patienten psychologisch einfühlsam. Sie machten EKG s und nahmen Blutproben, kassierten Gebühren und vereinbarten Termine, hielten die Praxis offen für die Umwelt. Es schnitt ihm insHerz, wenn er sah, wie unterwürfig sie waren, aber der Arzt galt als die Autorität. Er hatte nie verstanden, warum das so war.
Das war einfach lästig, wie Annika es auszudrücken pflegte. Äußerst lästig. Er saß Wand an Wand mit einem Arzt, der kein Hehl daraus machte, daß er diese Hierarchie in vollen Zügen genoß. Dr.Vigernes. Janken Vigernes. Als Arzt wurde Vigernes hier so ernst genommen wie zu Hause nie. Das betonte er auch bei jeder Gelegenheit, sogar im Beisein der Sprechstundenhilfen. Dieser Arzt, der zehn Jahre jünger war als er, schrieb, während er Patienten hatte. Thomas Brenner hatte es selbst erlebt, als er aus irgendeinem Grund an seiner Tür klopfte. Der Kollege hatte »Herein!« gerufen, und da sah er Vigernes großspurig am Schreibtisch sitzen, halb zurückgelehnt und die arme Patientin scharf fixierend. Als würden ihn diese wenigen Quadratmeter Macht erregen. In diesem Raum war Vigernes König. Erstaunlicherweise war er ein fähiger und verantwortungsvoller Mediziner, auch wenn er die Patienten gerne erniedrigte. Und er ließ sich gerne bezahlen. Thomas Brenner mußte einmal zu ihm, etwas mit seinem Magen war nicht in Ordnung. Janken Vigernes war hier Spezialist.
Auch damals hatte Vigernes geschrieben und benahm sich ihm gegenüber derart arrogant, daß Thomas vor Ärger die Brieftasche gezogen und ihm eher im Spaß einige Scheine als Bezahlung für die Behandlung gegeben hatte. Und Janken Vigernes hatte das Geld nach wie vor schreibend und in zurückgelehnter Haltung angenommen.
Dieser Vorfall hatte Thomas nachhaltig schockiert. Die Bestechung war ein Fehler gewesen, aber Vigernes hatte eindeutig signalisiert, daß er bestechlich war. In der Mittagspause saß Janken Vigernes gewöhnlich am Tisch undschrieb und gab Krankheitsgeschichten von Patienten zum Besten. So ist das mit schreibenden Menschen. Sie tendieren auch dazu, laut zu reden.
Trotzdem ertappte sich Thomas Brenner dabei, daß er ihn mochte. Gordon, sein Vater, hatte ihm eingebleut, sich Personen, die eine größere Autorität hatten als er, unterzuordnen. Und deshalb ordnete er sich Elisabeth unter, und er dachte an sie, während er durch die Praxisräume ging und dafür sorgte, daß alles an seinem Platz war. Er hatte Janken Vigernes gebeten, in der Zeit seiner Abwesenheit die Patienten, die unangemeldet kamen, zu übernehmen. Er hatte sich überlegt, daß die Aktion mit seiner Mutter etwa zwei Stunden dauern würde. Was für eine groteske Zeitberechnung, dachte er jetzt. An solchen Tagen mußte man mit allem rechnen.
Die Sprechstunde begann. Die Kollegen und die Arzthelferinnen waren an ihren Plätzen. Eine ängstliche alte Dame kam als erste an die Reihe. Sie brauchte ein anderes Abführmittel, obwohl er ihr beim letzten Mal eine Klinikpackung des stärksten Mittels verschrieben hatte. Und das erst vor wenigen Wochen. Das ungeheure Bedürfnis alter Menschen, sich zu entleeren, offenbar ein Gefühl der Reinigung, Katharsis, neue Hoffnung. Diese feine Dame, die ihr ganzes Leben viel Zeit auf ihr Äußeres verwendet hatte, um hübsch und anziehend auszusehen, saß jetzt stundenlang gekrümmt auf der Klosettschüssel, verzweifelt und zornig, weil selbst die besten Mittel nichts mehr bewirkten. Beharrlich sehnte sie sich nach Befreiung.
»Was kann ich für Sie tun?« sagte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Meine Verdauung wieder in Gang bringen!«
Er nickte. Es gab kein besseres Mittel als das von ihmverschriebene, aber das war offenbar
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