Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
der sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte. Nun ja, seine Mutter hatte ein gutes Leben gelebt. Sie mußte zwar ihre Kämpfe durchstehen, aber im großen und ganzen war sie von jeher ein Sonntagskind. Trotzdemwar es unvorstellbar, sich an einem Tag wie diesem nicht in die Situation von Bergljot Brenner zu versetzen. Der Umzug ins Pflegeheim bedeutete ja nicht nur die Trennung von ihrer Wohnung, sondern zugleich die Trennung von ihrem Mann. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, daß sie jemals wieder zusammenwohnen würden? Gering. Äußerst gering. Und deshalb würde dieser Tag auch für Gordon, seinen Vater, eine einschneidende Veränderung sein. Aber während er sich ankleidete, um dann hinunter zum Frühstücken zu gehen, quälte ihn der Gedanke, daß er sowenig fühlte. Daß er innerlich seltsam tot war, so wie ihm einige Chirurgen erzählt hatten, daß sie bei besonders schwierigen und entscheidenden Operationen, bei denen das Leben des Patienten auf dem Spiel stand, gefühlsmäßig ziemlich gleichgültig waren.
In der Küche war niemand außer der Katze. Sie hieß nur Katze. Sie kam nach Lines Auszug ins Haus. Elisabeth hatte sich eine Art Kompensation für die Abwesenheit der Tochter gewünscht. Niemand fand einen passenden Namen. Deshalb blieb es dabei, daß das Tier Katze hieß. Als Thomas Brenner sie erblickte, dachte er sofort, daß die Katze immerhin Elisabeths buddhistischen Imperativ begriffen hatte: Achtsamkeit. Niemand war geschickter darin, Achtsamkeit hervorzurufen, als die Katze, wenn sie, graugetigert und naß, hereinkam, um sich nach einem plötzlichen morgendlichen Regenschauer trockenreiben zu lassen. Das wirkte immer. Obwohl alle sie längst durchschaut hatten, nahm sich jeder die Zeit, sie zu streicheln, wenn sie miaute und mit ihrer aufmerksamen Nähe alle in der morgendlichen Hektik störte. Thomas liebte es, wenn sie um seine Beine strich. Es erinnerte ihn an das, wovon Elisabeth in letzter Zeit soviel sprach, daß der Wunsch, einfach nur zu existieren, genügen sollte. Die Katze warschlau. Sie lief in diesen wenigen Minuten, sobald sich Thomas mit oder ohne Elisabeth in der Küche aufhielt, durch die Katzenklappe aus und ein, während Annika wie üblich noch schlief.
Früher hatte Thomas diese Zeit vor der Hektik der täglichen Arbeit geliebt. Er stand am Fenster, blickte durch die Bäume im Nachbargarten hinunter zum Fjord und sah, wie irgendwo über Ekebergåsen die Sonne aufstieg. Ein schöner Anblick, dachte er. Und obwohl es früher Morgen war, dachte er wieder an Edvard Munch. Was hatte der doch damals geschrieben: Ein großer, unendlicher Schrei durch die Natur . Dann kam Elisabeth im Morgenmantel und schmiegte sich an ihn. Wie die Katze. Der Geruch nach Schlaf und Nachtcreme an ihrem Hals. Er könnte ihr den Morgenmantel abstreifen. So war es in letzter Zeit manchmal gewesen, ohne daß er wirklich glauben konnte, daß sie es ernst meinte, die seltenen Male, als er sie wieder ins Schlafzimmer schob. Vielleicht war es vor allem sein Bedürfnis, Stärke oder Verfall zu testen.
»Hast du gut geschlafen?« fragte sie und suchte in seinen Augen nach einer Antwort.
»Ich war zeitweise etwas unruhig«, gab er zu. »Aber das ist ja nicht verwunderlich.«
»Fährst du direkt hinauf zu ihr?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe vor zehn Uhr noch einige Patienten.«
»Du arbeitest zuviel«, stellte sie fest und schenkte sich von dem Kaffee, den er gekocht hatte, ein. Er wurde ärgerlich. Einer in dieser Familie mußte schließlich arbeiten. Manchmal dachte er, sie hielt das Geld für selbstverständlich. Aber er sagte nichts. Er hatte es noch nie fertiggebracht, sie zu kritisieren, egal aus welchem Grund. Und der Ärger verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Er nahm den Wagen hinunter zur Praxis. Jedesmal dasselbe Spiel. Die BMW s, die aus ihren Garagen schossen. Warum hatten es diese BMW -Fahrer immer so eilig? dachte er, während er mit dem Volvo hinunter nach Midtstuen kurvte.
Er hatte Sodbrennen, Magenschmerzen. Er dachte an seine Mutter. Es mußte ihr schwerfallen, das Bevorstehende zu akzeptieren. Der Gedanke, Elisabeth und ihm könnte in einigen Jahren dasselbe passieren, war unerträglich. Aber solange die Menschen nicht mehr sterben wollten, war das nun mal die Realität, daran ließ sich nichts ändern. Die wenigsten glaubten noch an die Seele, egal wie christlich sie waren. Und die Seele war das, was den Körper überlebte. Das hatte er so manches Mal
Weitere Kostenlose Bücher