Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
wirkungslos. Sie stand sozusagen auf verlorenem Posten. Eines Tages würde es vielleicht endgültig aus sein. Das war das Schlimmste für ihn, daß so viele von diesen Behandlungen eigentlich sinnlos waren. Er war nicht der Wunderheiler, den sie erhofften. Die meisten Krankheiten konnte er einigermaßen hinkriegen, mit lindernden Arzneien, die keine Probleme lösten. Trotzdem war für viele dieser Patienten der Arztbesuch ein wesentliches Ereignis. Thomas Brenner sah, wie die Hoffnung in ihren Augen aufleuchtete, sobald er ein neues Medikament erwähnte. Sie wiederholte den Namen fast andächtig, ließ ihn sehnsuchtsvoll wie ein Bonbon aus einer vergessenen Kinderzeit im Mund zergehen. Jedenfalls gelang es ihm, sie zu beruhigen. Das neue Medikament würde jetzt ihre Gedanken okkupieren. Sie würde es zunächst lieben und davon überzeugt sein, daß es, verglichen mit dem alten, eine Verbesserung darstellte. Dann würde sie langsam merken, daß sich nichts geändert hatte, und dann würde sie wieder bei ihm erscheinen.
Er strich ihr sanft über die Schulter, bevor er sie hinausschickte. Das Schlimmste war, daß sie so dankbar waren, ohne Grund. Diese Dame brachte ihm jedes Jahr zu Weihnachten eine Flasche Rotwein. Als habe er sich um sie verdient gemacht. Aber er brachte es nicht übers Herz, sie zu enttäuschen. Es war wichtig für sie, daß sie etwas hatte, für das sie dankbar sein konnte.
Er rief den nächsten Patienten herein, danach mußte er fahren. Der schnelle Puls kam in gewaltsamen Stößen. Er merkte, daß ihm der Schweiß auf der Stirn stand, und er fühlte sich krank. Er überlegte, einen Betablocker zu nehmen. Danach würde er zwar ruhiger sein, aber auch müde. Er verschob die Entscheidung auf später. Der Patient warein bedauernswerter Alkoholiker, dessen Hoffnung darin bestand, alte Beschwerden verantwortlich zu machen, eine Ischialgie vor fünfzehn Jahren, etwas mit dem Fuß. Er setzte sich neben den Schreibtisch. »Was kann ich für Sie tun?« sagte Thomas Brenner und versuchte, nett und entgegenkommend zu wirken.
»Ach, ich weiß nicht«, sagte der Mann und starrte auf den Boden. Alkoholiker sind immer voller Schuldgefühle.
»Irgend etwas wird Sie doch hergeführt haben?« sagte Thomas Brenner freundlich.
»Vielleicht das mit den Schmerzen im Fuß«, sagte der Mann verlegen.
Thomas Brenner nickte. Bei diesem Kerl ist es immer der Fuß. Aber man mußte es jedesmal wie eine Zeugenaussage aus ihm herauslocken. Die meisten Patienten könnten auch ohne Medikamente etwas gegen ihre Krankheit tun. Dieser Mann könnte seinen Kreislauf anregen, wenn er jeden Tag einen kleinen Spaziergang machen würde. Statt dessen saß er zu Hause und trank, Jahr für Jahr, und nahm zusätzlich die von Thomas verschriebenen Medikamente. Er wollte den Fuß untersucht haben, was vor drei Monaten auch der Fall gewesen war. Nichts hatte sich verändert. Dieses Unveränderliche und Wiederkehrende im Leben war es, das Thomas Brenner jetzt mehr und mehr erschreckte, daß das Leben wie eine endlose Trasse verlief, so wie auch bei ihm, Elisabeth, Annika und Line. Daß sich bei seinen Töchtern nichts Wesentliches veränderte, um das Leben endlich in Angriff zu nehmen, daß nichts mit Elisabeths Knoten geschah, daß seine Mutter ab heute und dann vielleicht jahrelang im Rollstuhl in einem Pflegeheim leben würde.
Er roch den abgestandenen Geruch dieses gutmütigen, unsicheren, alternden Säufers. Zigarettenqualm drang ausallen Poren seines Körpers, vermischt mit dem allmorgendlichen Schnaps- und Bierdunst.
»Wirken die Tabletten nicht mehr?« fragte er.
Der Patient rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Ich habe immer noch Schmerzen«, sagte er.
Thomas Brenner überlegte. Sollte er ein stärkeres Schmerzmittel verschreiben? Eine Moralpredigt führte jedenfalls zu nichts. Er griff zum Rezeptblock und fühlte sich mies dabei. Dieses Präparat würde den Mann noch apathischer machen. Der Mann erhob sich und wirkte genauso dankbar wie die alte Dame. Vielleicht kam er zur Weihnachtszeit mit einer Flasche Cognac an.
Thomas Brenner konnte es nicht länger hinausschieben. Er schaute auf die Uhr und spürte, wie das Herz mit heftigen Schlägen seine Rippen attackierte, wie ein außer Kontrolle geratenes Fußballmatch, bei dem die Spieler den Ball wild in alle Richtungen schossen. Er stöhnte und mußte für einen Moment nach Luft schnappen. Dann schlüpfte er in den Mantel und ging hinaus zu den Arzthelferinnen. Sie wußten,
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