Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
mehr.«
»Du willst also, daß das meiste hierbleibt?«
Der Vater nickte. »Hast du gestern nicht ferngesehen? Sie bestehlen uns Alte inzwischen! Sie plündern uns aus! Ohne Skrupel!«
Da saß er, der ehemalige Unternehmer. Gewöhnt, Befehle zu erteilen. Saß da in der alten, burgunderroten Cordhose, dem hellblauen Hemd und den breiten Hosenträgern und sah aus wie ein resignierter, starrköpfiger, gestrandeter Amerikaner, ein früherer republikanischer Senator mit echten Werten. Genau wie in dem Animationsfilm, den sich Elisabeth und er auf Drängen von Annika unbedingt zusammen mit ihr anschauen mußten.
Und das hatten sie gemacht, sogar in dem anstrengenden 3-D-Format, bei dem die Figuren aus der Leinwand sprangen und plötzlich mitten im Kinosaal standen. Bereits in der Eingangsszene des Films begann Thomas Brenner sich unwohl zu fühlen. Aber dann entwickelte sich aus dieser überzogenen Hollywood-Idee eine Liebesgeschichte, bei der ihm beinahe die Tränen kamen. Und Annika hatte das gemerkt, denn sie hatte seine Hand gedrückt. Diese eiskalt berechnenden Drehbuchautoren, die genau wußten, wie sie eine Intrige aufbauen mußten, um dann ihren haarsträubenden und meistens pervertierten Schwachsinn über die Zuschauer zu gießen, die in diesem Moment gefangen waren in konzentrierter Achtsamkeit. Und während er dasaß und mit den Fingern über die Adern unter der dünnen Haut seiner Mutter strich, fielihm diese Liebesgeschichte ein, so knapp und unsentimental erzählt und trotzdem so geistreich und bewegend.
Begonnen hatte es mit dem Übermut des kleinen Junge und des Mädchens, die sich in ihrer Begeisterung für Märchen fanden. Keiner der beiden war hübsch, aber als Zuschauer begriff man schon nach wenigen Sekunden, daß sie füreinander geschaffen waren. Und so kam es. Man begleitete sie durchs Leben, Schritt für Schritt, von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt. Man sah, wie sie mehr und mehr miteinander verschmolzen, sich immer ähnlicher wurden, eine Zweisamkeit lebten, wie sie nur ganz wenigen gelingt.
So war es auch bei Bergljot und Gordon gewesen, dachte Thomas Brenner. Als sie sich zum ersten Mal in Sandefjord bei Anders Jahre begegneten, war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Noch viele Jahre später umgab sie diese Aura. Die alten Geschichten blieben lebendig. Wie oft mußten sich Thomas, Vigdis und Johan die Geschichte von der stillen Sommernacht auf dem Fjord anhören, als Gordon beide Ruder ins Wasser fallen ließ und sie weit draußen auf dem Wasser trieben, bis sie von einem Fischerboot gerettet wurden. Oder von dem Ball im Atlantic-Hotel, auf dem sich Bergljot um ein Haar mit einem andern verlobt hätte und Gordon alle seine Freunde aufgefordert hatte, sie so abzuschirmen, daß der Nebenbuhler nicht zu ihr gelangen konnte.
Es war Gordon gewesen, der Bergljot vom ersten Augenblick an geliebt und sie all die Jahre angebetet hatte. Nach seinen Erfahrungen aus der Arztpraxis sah Thomas Brenner nur zu deutlich, welches Geschenk das war, mit einer Mutter und einem Vater aufzuwachsen, die einander liebten. Während der ganzen Kindheit hatte es so viele Momente gemeinsamen Glücks gegeben, Bestätigungendafür, daß sie sich mochten, ein plötzliches Lachen in der Küche, Rosensträuße an der Haustür. Genau das hatte auch dieser Film geschildert. Ein Mann und eine Frau, die einander ein langes Leben geliebt hatten. Aber dann wurde die Frau krank.
Die Geschichte hatte Thomas zu Tränen gerührt, und das hatte Annika natürlich gesehen. Die Frau würde sterben. Annika hatte laut zu schluchzen begonnen. Sogar Elisabeth mußte zum Taschentuch greifen, als die Frau starb und der Mann allein zurückblieb. Vom Winde verweht und Casablanca fielen ihm ein. Und jetzt, zusammen mit den Eltern im Erker, dachte er, daß sie höchstwahrscheinlich das letzte Mal so zusammen waren. Aber es gab kein begeistertes Publikum wie im Film. Keine gute Musik. Die Handlung war nur für die Akteure. Und er sah, daß das alte, blaugeblümte Baumwollkleid, das Bergljot trug, voller Flecken war.
In dem Augenblick klingelte es an der Tür.
»Wer kommt da?« rief der Vater mit flackernden Augen.
»Das müssen die vom Pflegeheim sein«, sagte Thomas und nahm die Hand des Vaters mit seiner freien Hand. Jetzt bildeten sie einen Ring, wie kleine Kinder auf dem Schulhof.
Da klingelte es zum zweiten Mal.
»Ich muß ihnen aufmachen«, sagte Thomas und mußte sich beinahe losreißen vom festen, zitternden Griff des
Weitere Kostenlose Bücher