Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
was ihn erwartete, und wünschten ihm alles Gute.
Er steuerte den Volvo das kurze Stück hinauf zum Holmenkollveien und bog in die Toreinfahrt ein, die schon seit Jahren offenstand, weil seine Eltern nicht mehr in der Lage waren, das Tor zu schließen. Mit seinem Schlüssel öffnete er nun die Haustür der Villa. An der offenen Tür zum Wohnzimmer rief er, um sich anzukündigen. »Ich bin es!«
Als er eintrat, saßen sie wie üblich jeder in seinem Sessel am Erkerfenster. Er sah sofort, daß niemand irgendwelche Vorbereitungen für den Umzug unternommen hatte. Keine Tasche mit den Kleidungsstücken der Mutter war gepackt, obwohl er dem Pflegedienst schon vor einer Woche Bescheid gesagt hatte. Bergljot lächelte ihm freundlich entgegen. Die Mutterliebe leuchtete jedesmal aus ihren Augen, wenn sie eines ihrer Kinder sah. Das rührte ihn immer wieder. Er kannte keinen Menschen, der seine Kinder so vorbehaltlos liebte und deren Eskapaden all die Jahre akzeptiert und unterstützt hatte.
»Wie geht es dir, Mutter?«
Sie zuckte die Schultern. »Ach, geht schon.«
Gordon Brenner, der genau aufpaßte, rief plötzlich: »Du mußt dafür sorgen, daß sie ihre Uhr mitnimmt! Sie ist völlig abhängig von der Uhr!«
Das war eine der fixen Ideen seines Vaters, dachte der Sohn. Bergljot hatte längst die Zeit hinter sich gelassen, wenn auch nicht im wörtlichen Sinn. Und trotzdem war sie noch sehr Bergljot. Doch je mehr sie zunehmend aus dieser Welt verschwand und die verschiedenen Räume in ihrem Gehirn schloß, die den jeweiligen Seiten ihrer Fürsorge vorbehalten gewesen waren, um so beharrlicher versuchte Gordon sie daran zu erinnern, was gewesen war, was für sie einmal Bedeutung gehabt hatte. Und das war vor nun fünfzig Jahren die Uhr gewesen. Denn damals waren die Kinder klein und mußten geweckt werden, um in die Schule zu gehen. Herrgott, ein halbes Jahrhundert! dachte Thomas Brenner und setzte sich auf den freien Stuhl, um auf bestimmte und trotzdem schonende Weise den Grund seines Kommens zu erklären. Zuerst versuchte er herauszufinden, ob sie verstanden, worum es ging, daß jeden Moment ein Taxi mit einer Mitarbeiterin des Pflegeheims kommen und die fast neunzig Jahre alte Mutter nach Death Row bringen würde, wie er diese Institution insgeheim oft nannte. Natürlich hätte er sie auch in seinem Volvo fahren können. Aber als die Pflegeheimleitung das vorgeschlagen hatte, war ihm schlagartig klargeworden, daß er unmöglich zu seiner Mutter sagen konnte: »Na Mutter, jetzt ist es soweit, wir fahren los.«
Er wollte auf keinen Fall, daß Bergljot und Gordon das Gefühl bekamen, daß er all das gewollt hatte. Und wieder verfluchte er seine Geschwister, die weit genug weg lebten, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Sie kümmerten sich nie! Aber das Haus wollten sie haben. Auf beinahe krankhafte Weise waren sie vom Erbe besessen. Und als er sich gezwungen sah, ihnen mitzuteilen, daß die Angelegenheit gar nicht so rosig aussah, wie sie sich das vorstellten, daß vermutlich wegen einiger Fehlinvestitionen ihres Vaters nichts mehr da war, hatten sie am Telefon fast zu heulen angefangen.
Sie haben sich nie Gedanken über die Eltern gemacht, die waren einfach da, dachte Thomas. Ebenso wie für Annika und Line er und Elisabeth einfach da waren, um für sie das Eis der Curlingbahn zu fegen, bis sie starben, und wenn sie starben, sollte ihnen ein Erbe zustehen, der Erlös aus dem Brenner- und dem Dahl-Haus.
Ach, was für erzkonservative Holmenkoll-Schnösel waren sie alle geworden! Thomas Brenner nahm die kalte Hand der Mutter und wärmte sie in seiner. Zu verwöhnten, kaputten Individuen hatten sie sich im Laufe der Jahre entwickelt. Als das Alter und die Gebrechlichkeit einsetzten, verwischten sich die Klassenunterschiede weitgehend. Er wußte, daß es Tausende von Frauen in der Situation seiner Mutter gab, die nie einen Platz im Pflegeheim bekamen, die in die Hose machten, ohne daß eine Schwester kam, die in der Küche stürzten und sich den Oberschenkelhals oder das Genick brachen, ohne daß jemand bei ihrem Begräbnis auch nur eine Träne vergoß. Trotzdem war es seine Mutter, die an diesem Tag vor ihm saß und mehr als je zuvor seine Hilfe brauchte.
»Die Uhr«, rief der Vater. Thomas Brenner nickte. »Ich vergesse es nicht«, sagte er. »Aber es gibt schließlich noch ein paar andere Dinge, die sie ins Pflegeheim mitnehmen muß.«
»Nicht viel«, rief der Vater. »Sie braucht nichts Großes
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