Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Gefühl, jederzeit alles zu verlieren. Sein ganzes Leben lang hatte er Angst davor gehabt, allein gelassen zu werden. Als Kind hatte er ebenso wie Annika darum gebettelt, bei Bergljot und Gordon im Bett liegen zu dürfen.
Mit der psychologischen Spürnase des Kindes hatte er gemerkt, daß Bergljot nichts dagegen haben würde. Aber das waren damals andere Zeiten. Eine andere Art von Erziehung. Gordon hatte ihm Abend für Abend freundlich, aber bestimmt erklärt, daß das natürlich nicht in Frage komme. Wenn er daran dachte, konnte er immer noch auf den Vater böse sein. War Line vielleicht auch böse auf ihn? Warum hatten er und Elisabeth keine klare Regelung gefunden, so daß nicht nur Annika bevorzugt wurde? Mit dem Gefühl des Untergangs kam immer das schlechte Gewissen. Und dagegen ließ sich nichts machen. Die einzige, auf die er möglicherweise einwirken konnte, war Elisabeth. Zu all den Gedanken und traurigen Ereignissen dieses Tages kam der Gedanke an den Knoten in Elisabeths Brust. Spätestens heute abend mußte er mit ihr darüber reden.
Er ging langsam den Hügel hinauf zum Brenner-Haus. Das Haus zum erstenmal ohne Bergljot. Wie nach einem Todesfall oder einem Begräbnis, dachte er. Ein Gefühl der Leere.
Er hatte den Schlüssel griffbereit, aber die Tür stand offen. Er mußte dem Vater einschärfen, daß er besser zuschließen sollte, nachdem zur Zeit überall in der Stadt rumänische Banden ihr Unwesen trieben.
Er ging durch die Wohnräume und fand seinen Vater am selben Ort, wo er ihn verlassen hatte. Er sah in dem grellen Herbstlicht noch grauer aus.
»Du mußt etwas für mich besorgen«, rief er.
»Nicht jetzt, Vater. In der Praxis warten sie auf mich. Was brauchst du denn?«
»Einen Kleiderbügel.«
»Aber Vater, du hast doch im Schrank oben Dutzende davon.«
»Ja, aber keinen Hosenkleiderbügel!« rief der Vater.
»Die gibt es nicht überall. Meinst du so einen altmodischen, in dem die Hosenbeine eingeklemmt werden?«
»Ja, genau!« Der Vater strahlte, als sähe er doch eine Hoffnung, daß sich der Sohn anders entschließen würde.
»Ich müßte dazu in die Stadt«, sagte Thomas. »Das schaffe ich heute nicht.«
Vater grunzte. Plötzlich standen ihm alle Niederlagen des Lebens ins Gesicht geschrieben.
»Warum bist du dann überhaupt gekommen? Wenn du nichts besorgen kannst, meine ich.« Gordon Brenner schaute seinen Sohn verständnislos an. Thomas konnte sich nicht erinnern, seinen Vater in den letzten Jahren jemals besucht zu haben, ohne etwas Praktisches erledigen zu müssen. Die Vater-Sohn-Beziehung hatte sich auf die Besorgung zahlloser Dinge reduziert, die dem Alten das Leben erleichtern sollten.
»Ich wollte dir berichten, wie es mit Mutter gelaufen ist«, sagte Thomas, überrascht über die Wendung, die das Gespräch nahm.
»Mutter wird es jetzt schlechtgehen«, sagte der Vater mehr zu sich selbst. »Und wir können nichts tun.«
Thomas wußte nicht, wo er anfangen sollte. Wollte der Vater wirklich nicht hören, wie es mit seiner Frau gelaufen war, oder versuchte er nur, sich vor Gefühlen zu schützen? Da brach ein Schluchzen aus dem alten, kompakten Körper. Er hielt sich krampfhaft an seinen Hosenträgern fest.
Abgesehen von der Episode auf dem Berg hatte Thomas den Vater nie weinen gesehen. Und er würde es auch jetzt nicht sehen, denn der Vater hatte den strengen Blick, den er gewöhnlich aufsetzte, um Festigkeit zu zeigen. Thomas hatte oft gedacht, welches Glück er mit diesem Vater gehabt hatte, der überhaupt kein Patriarch war, sondern eher ein lebendiger, netter und etwas chaotischer Mann, der sich sein Leben lang mit zu ehrgeizigen Projekten beschäftigt hatte, im tiefsten Herzen aber ein liebevoller und guter Vater und Ehemann war. Vor allem war er ein begeisterter Mann. Das war er nun nicht mehr. Dafür hatte das Alter gesorgt.
Aber den Großteil seines Lebens war er auf die Welt und die Menschen mit einem Enthusiasmus zugegangen, der grenzenlos war und manchmal kindlich echt. Selbst für unmögliche Bauherren, mit denen er als Bauunternehmer zu tun gehabt hatte, fand er schmeichelhafte Worte. Und mit diesen Leuten von der Bank, die ihm so übel mitgespielt hatten, telefonierte er oft stundenlang, verwickelte sie in persönliche Gespräche und wußte am Ende die Namen ihrer Frauen und ihrer Kinder und welches Auto sie fuhren. Und er hatte Mitleid mit ihnen, wenn sie überarbeitet waren, obwohl er es war, den sie um sein Geld brachten.
Jeder neue Mensch
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