Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Seufzer. »Doch!« rief der Vater wütend. »Ich muß aufs Klo!«
Und jetzt hörte er den unverkennbaren Laut, wenn etwas in die Hose geht oder genauer in die Windel. Und Thomas versuchte dem Vater zu signalisieren, daß er sich nicht mehr beeilen brauchte, aber der Vater stapfte unbeirrt weiter Richtung Toilette.
Im Bad war der Vater so erschöpft, daß er sich mit beiden Händen am Waschbecken abstützte. Jetzt merkte auch er, daß es zu spät war. Daß es zwecklos war, sich auf die Kloschüssel zu setzen. Noch vor einigen Wochen wäre das für ihn eine unerträgliche Situation gewesen. Aber er hatte jede peinliche Verlegenheit abgelegt. Deshalb machte es ihm nichts aus, daß Thomas ihm die Hose herunterzog, die Windel zwischen den Beinen herausholte. Der Vater blieb unbeweglich mit geschlossenen Augen stehen.
»Ich muß dich jetzt waschen, Vater.«
Thomas Brenner suchte nach einem Lappen im Schrank unter dem Waschbecken vor den Beinen des Vaters. Der Gestank des feuchten Stuhlgangs stieg ihm direkt in die Nase.
Im selben Moment spürte er, wie das Herzflimmern aufhörte, von einer Sekunde zur anderen schlug das Herz wieder regelmäßig, zuerst mit erhöhtem Puls, dann allmählich langsamer. Er hatte die Ursache dieser plötzlichen Herzrhythmusstörungen noch nie verstanden, doch jetzt war nicht die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Er spürte nur eine enorme Erleichterung, wie immer nach einem solchen Anfall. Und weil er keinen Waschlappen fand, nahm er kurzerhand ein Handtuch, befeuchtete es mit Wasser, schmierte es mit Seife ein und wusch den Vater, so gut es ging, dankbar darüber, daß der Vater das schon öfter mitgemacht hatte, sowohl mit ihm wie mit dem Pflegedienst, und bereitwillig die Beine spreizte, um ihm die Arbeit zu erleichtern.
Als er mit dem Waschen fertig war, begleitete er den Vater zurück in den Erker, um dann in der Küche eine Plastiktüte zu holen, in die er die volle Windel im Bad steckte und dort liegenließ. Der Pflegedienst würde später kommen und aufräumen, obwohl er einen Stich von schlechtem Gewissen hatte. Aber er mußte zurück in seine Praxis.
»Kommst du jetzt zurecht?« fragte er.
»Natürlich komme ich zurecht«, rief der Vater. Er hatte die Zeitung in Reichweite, dazu ein Buch über den Zweiten Weltkrieg und die Fernbedienung. Diese Dinge waren jetzt wichtig für ihn. Herrgott, dachte er. Er hatte sich gar nicht vergewissert, ob Bergljot ein Fernsehgerät in ihrem Zimmer hatte. Vielleicht hockte sie nur da und glotzte die Wände an? Aber dann fiel ihm ein, daß es in diesem Pflegeheim Fernsehen gab. Daran erinnerte er sich von früheren Besuchen. Trotzdem war es unverzeihlich, daß er sich nicht darum gekümmert hatte. Als wäre es nur darum gegangen, sie abzuliefern und danach zu verschwinden, wie bei den heutigen jungen, jobfixierten Männern üblich. Aber so einer war er schließlich nicht! dachte er, während er sich vom Vater verabschiedete und ihn bat, darauf zu achten, die Haustür zu verschließen, der Pflegedienst habe einen eigenen Schlüssel. Er merkte, daß seine Worte nicht ankamen, er hätte ebensogut mit der Wand reden können.
»Wann kommst du wieder, Junge?« fragte er, lächelte dabei aber das freundliche, nichtssagende Lächeln, an das sich Thomas immer erinnern würde.
»Vater, jetzt müssen wir zuerst an Mutter denken, nicht wahr?«
Der Vater nickte wie ein gehorsamer Schüler. »Du weißt, es gibt so vieles, was ich dazu sagen könnte …«, sagte er, diesmal mit leiser Stimme. Der Oberkörper sackte zusammen.
»Ich weiß es, Vater. Ich weiß, daß es für euch beide schwer ist.«
»Und du hast sicher genug um die Ohren, Thomas.«
»Ja, das habe ich in der Tat.«
»Wie geht es Annika? Und Line? Und Elisabeth?«
Er antwortete, daß alle wohlauf seien. Dann strich er dem Vater über die Stirn und stahl sich hinaus, wie er danach dachte. Sich hinausstehlen, als habe man etwas verbrochen. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als ohne diesen Druck zu leben und mit gutem Gewissen. Aber das hatte er in den letzten Jahren gelernt: je mehr Fürsorge, desto schlechteres Gewissen. Jetzt saß der Vater allein in seinem Erker. Er hatte niemanden, mit dem erreden konnte. Aber er hatte es selbst so gewollt und geplant.
Das war ein magerer Trost.
In der Arztpraxis schauten ihn die Sprechstundenhilfen fragend an. Sie wußten, was er hinter sich hatte. »Schlimm«, sagte er nur. »Einfach schlimm.«
Er warf einen Blick ins Wartezimmer.
Weitere Kostenlose Bücher