Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Noch keine bestellten Patienten, aber da saß doch tatsächlich die Mutter von gestern. Heute ohne Kind. Er ging in sein Sprechzimmer, immer noch erleichtert darüber, daß der Anfall vorbei war. Das war wie zwei verschiedene Leben, und merkwürdigerweise blieb nach diesen Anfällen keine Erinnerung. Waren sie vorbei, dann war es, als habe es sie nie gegeben. Genauso unmöglich war es, sich während eines Anfalls vorzustellen, daß das Herz jemals wieder seinen Rhythmus finden würde. Der Computer stand da und surrte. Das Leben ging weiter wie immer. Er wußte, daß im Laufe des Nachmittags ein Dutzend Patienten auftauchen würden. Aber noch hatte er eine Viertelstunde, die frei war. Er beschloß, sich in dieser Zeit anzuhören, was die Mutter, die ohne Kind gekommen war, wollte. Er war einfach neugierig. Über diese Familie wußte er wenig, obwohl auch der Mann sein Patient war. Aber er kam nicht mehr darauf, was ihm gefehlt hatte. Er drückte einige Tasten auf dem PC , und es erschien die Datei dieses Patienten. Da war er. Natürlich auch einer dieser Mittelfeldspieler. Ein gestreßter Manager in einer der großen Firmen. Sicher hoher Blutdruck. Oder Altersdiabetes. Die üblichen Zivilisationskrankheiten. Aber die Diagnose blinkte ihm entgegen. Chlamydien. O weh, dachte Thomas Brenner, eine Geschlechtskrankheit. Das war es gewesen! Einige Monate bevor seine bildhübsche Frau ihr erstes Kind bekommensollte. Plötzlich fiel ihm das peinliche Gespräch im Arztzimmer wieder ein. Der Mann, der beteuerte, überhaupt nicht zu verstehen, wie er zu dieser unanständigen Krankheit gekommen sei. »Ja, unanständig«, hatte er wiederholt, als er brav in seinem korrekten Nadelstreifenanzug vor ihm saß und ihn beinahe anschrie, er sei doch ein Mann von Welt.
An den Rest des Gesprächs konnte sich Thomas Brenner nicht erinnern. Wer woran die Schuld hatte, war nicht sein Problem. Er stand auf und winkte die Frau dieses Mannes herein, neugierig zu erfahren, wo das Kind geblieben war. Es hatte hoffentlich eine Großmutter.
Die große blonde und schlanke Frau, die sogar ihren Hausarzt für einen Augenblick sündige Gedanken denken ließ, kam wie ein Model herein zu ihm, überzeugt von ihren Reizen. Während er sie anlächelte, fiel ihm ein, welche Panik ihr Ehemann gehabt hatte, daß sie nichts davon erfahren dürfe, was bei Geschlechtskrankheiten fast unmöglich war. Wahrscheinlich hatte er sie auch herbestellen wollen, unter dem Vorwand einer Routineuntersuchung. Aber der Ehemann hatte ihn davon abgebracht oder die Entscheidung so weit hinausgeschoben, daß Thomas Brenner die ganze Angelegenheit vergaß. Das ist ja das Problem aller Ärzte, dachte er, daß sie ständig Dinge vergaßen. Die Leute saßen im Wartezimmer und dachten, sie würden wiedererkannt, rechneten damit, daß ihr Hausarzt ihre Krankengeschichte sofort präsent hatte. Aber das war nicht der Fall. Menschen und Krankengeschichten vermischten sich. Der Computer mußte sich für ihn erinnern. Wie hat das bloß früher geklappt, als der Arzt den Zeigefinger befeuchtete und die Patientenkartei durchblätterte. Eine Zeit, die zum Glück vorüber war, er selbst hatte sich geschworen, professionell zu arbeiten. Er wollte sich sowohl fachlich wie mental ständig auf den neuesten Stand bringen. Er wollte ganz einfach ein guter Arzt sein, mit einer guten Datenverarbeitung. Und als ein dementsprechend guter Arzt begrüßte er jetzt diese bezaubernde, selbstbewußte, frischgebackene Mutter in seinem Sprechzimmer. Zum Glück erinnerte er sich daran, warum sie das letzte Mal bei ihm gewesen war. Das war allerdings erst gestern, dachte er.
»Wie funktioniert das mit Ihrem Mädchen und dem Schlafmittel?« sagte er mit dieser Mischung aus Vertraulichkeit und fachlichem Ernst, wie es diese Generation mochte.
»Das funktioniert ausgezeichnet«, lächelte die Mutter und setzte sich auf den Patientenstuhl. »Deshalb bin ich aber jetzt nicht gekommen. Ich brauche nur ein neues Rezept für die Pille.«
Die Pille. Nun, die verschrieb er ständig. Auch wenn ihr Mann Chlamydien hatte, gab es keinen Grund, seiner Frau nicht die Pille zu verschreiben. Die Welt war unbegreiflich geworden. Er musterte die junge Frau einen Augenblick. Hatte sie wirklich momentan Lust auf Sex? Während dieser ersten kritischen Monate, in denen sich alles um das Stillen drehte? Aber dann wurde ihm klar, daß diese Frau nicht stillte. Sie mußte auf ihre Brüste achten. Natürlich. Kaiserschnitt und
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