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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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die Gefühle, gegen die sie ein ganzes Leben gekämpft hatten, infizierten sie, sobald sie alt wurden. Es war schrecklich anzusehen. Menschen mit einem nüchternen und sachlichen Verhältnis zum Leben fingen vor laufender Kamera zu weinen an, wenn sie etwas Persönliches gefragt wurden. Man glaubte an das Weinen. Das Land liebte es, wenn der Ministerpräsident, der König oder der Kronprinz öffentlich Tränen vergossen. Das waretwas für die Titelseite der Regenbogenpresse. Da wurde man zur Talk-Show eingeladen, und das Weinen wurde in der Wiederholung gesendet, wenn man das Glück hatte, gefilmt zu werden. Das Weinen wurde attraktiver als Porno, dachte Thomas Brenner. Wenn die Medien die Wahl hätten, würde das Weinen der Nacktheit vorgezogen.
    Es war diese verzweifelte Gefühlsarmut, egal ob bei arm oder reich, dumm oder intelligent, die Thomas Brenner tief beunruhigte, und jetzt im Auto dachte er, daß die Jahreszeiten nun mal ein Symbol waren, das man nie los wurde. Es konnte sogar in den Grabreden der intellektuellsten Personen auftauchen, auch wenn sie ihr Leben lang mit Klauen und Zähnen gegen jede Art von Sentimentalität gekämpft hatten. Professoren! Parlamentspräsidenten! Flugkapitäne! Prinzessinnen! Reuevolle Mörder! Abgehalfterte Rockstars! Die Jahreszeiten! Der Herbst des Lebens! Der Frühling des Lebens! Der Winter des Lebens! Der Sommer war merkwürdigerweise in diesem Zusammenhang am wenigsten populär.
    Und jetzt war Thomas Brenner unterwegs vom Herbst des Lebens zum Winter des Lebens, symbolisiert durch seine Mutter, die im Pflegeheim war und in wenigen Tagen sterben würde oder erst in zehn Jahren. Die Ärzte im Pflegeheim würden sie sicher irgendwie am Leben erhalten, bis sie hundert war.
    Sie hatte Walfängerblut in den Adern. In Bergljots Familie wurden alle richtig alt. Der Urgroßvater starb erst mit weit über neunzig Jahren. Er sah schon die Jahre vor sich, die Elisabeth und ihm bevorstanden. Wenn das wirkliche Alter kam, würden sie am Ende ihrer Kräfte sein. Wieviel würden sie noch verstehen von dem, was um sie geschah?
    In kurzen, aber intensiven Visionen sah er sich und Elisabeth, jeder isoliert in seinem Pflegeheim in verschiedenen Stadtteilen. Er sah, wie sich ihr bereits leicht gekrümmter Rücken noch mehr gekrümmt hatte, wie ihre Arme nur Haut und Knochen waren. Wie Annika und später auch Line sie besuchen würden, hilflos und mit einem Stück Marzipankuchen, und über Dinge redeten, von denen sie glauben, das könnte ihre Mutter interessieren, die aber bedeutungslos waren, weil sie zu müde war, weil sie nicht einmal mehr Bücher lesen oder das Kulturprogramm im Fernsehen verfolgen oder Musik hören wollte.
    Er sah sie förmlich in diesem tristen Zimmer sitzen, zum Beispiel im Furuset-Pflegeheim, das gewiß nicht zu den schlechtesten zählte und direkt bei einem Einkaufscenter lag, an einem Sonntagnachmittag während irgendeiner Andacht, die im Fernsehen lief, und Annika oder Line waren eben gegangen. Er konnte in dem trüben Lampenlicht ihre Augen sehen, die auf ein trauriges Bild an der Wand blickten, eine schlechte Lithographie von einem Bauern mit Pflug, Kunst, die die Stadtverwaltung dem Pflegeheim großzügig zur Verfügung gestellt hatte und die sie nicht auswechseln wollte. Er konnte sich ihre langen Abende vorstellen, bis ihr schließlich eine freundliche Pflegerin aus Somalia hilft, sich ins Bett zu legen, und ihr über den Kopf streicht und sie tröstet wie ein kleines Kind, wenn sie über Gliederschmerzen jammert, vielleicht ohne zu verstehen, warum Leute in diesem Land es fertigbrachten, ihre Alten so zu isolieren.
    Und kaum hatte er diesen Gedanken fertiggedacht, dachte er an sich selbst im Majorstuen-Pflegeheim, vielleicht im selben Zimmer, das seine Mutter gehabt hatte; sie war vor gar nicht so langer Zeit verstorben. Mit Aussicht auf die Straßenbahnlinie konnte er aus der Ferne die Aktivität der Gesellschaft verfolgen, die vollbesetzten Züge während des Feierabendverkehrs. Er sah sich mit Windelnim Stuhl sitzen, vertieft in die Zeitschrift des norwegischen Ärztebundes, in der er einen Artikel über neue Behandlungsformen bei Krebs zu verstehen versuchte.
    Er hörte sich ungeniert ins Zimmer furzen, er war ja fast immer allein. Er hörte sein Husten, ein Zeichen für verschleimte Lungen. Er roch die abgestandene Luft, den Geruch nach Bohnerwachs, Pisse und Essen. Er erinnerte sich, daß Annika und Line gerade dagewesen waren und er sie frühestens

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