Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Line war. Wie eng verflochten sie doch waren und wie unvorstellbar es war, das Leben in Zukunft ohne sie weiterzuleben.
Und in einem solchen Szenario, dachte er, während er redete, konnte er sie dieser Festgemeinde vorstellen, konnte so privat werden, wie er wollte, konnte erzählen,wie sehr er sich nach ihr sehnte, wenn sie nur ins obere Stockwerk ging, wie sie für alle, jung und alt, eigentlich der Lebensnerv war.
Er hatte sich warm geredet, und die versammelten Gäste hörten ihm zu. Jedes Wort saß. Er hörte seine eigene Stimme im Saal. Er war nicht übermäßig sentimental. Nichts von dem, was er bisher gesagt hatte, war peinlich. Mit jedem Satz bekam er neue Einfälle. Er flocht Episoden aus seinem Alltag als Arzt ein, und egal, was er sagte, bei welchen Bildern er verweilte, waren seine Worte erfüllt von Todesangst, nicht der Angst vor dem eigenen Tod, sondern von der Verlustangst.
Das war es, was er sagen wollte. Er wollte über etwas sprechen, über das fast nie gesprochen wurde. Er wollte die Angst vor Elisabeths Tod sichtbar machen. Auf diese Weise wollte er sie feiern: Sie durfte nicht sterben. Sein Blick traf in dem Moment den von Tulla. Sie starrte ihn an, etwas erstaunt, vielleicht schockiert. Er bemerkte, daß sie blaß war. Einen Augenblick überlegte er, ob ihr diese unerwarteten Betrachtungen über den Tod, über das existentiell Unannehmbare, jemanden zu verlieren, zu nahe gingen.
Er zögerte einen Augenblick. Er wollte niemanden provozieren. Aber er zwang sich, fortzufahren. Er wollte den Menschen in diesem Saal, all diesen wirklichen und sogenannten Freunden Elisabeths, vermitteln, wie unersetzlich sie war, wie einmalig, egal ob sie bei Telenor, bei Burlingthon Ltd. oder daheim im Dahl-Haus in der Altenpflege tätig war. Er zögerte das Wort etwas hinaus, beschloß dann aber, es zu verwenden, und genau in diesem Augenblick erbrach sich Tulla Dahl, ein Strahl traf mit hörbarem Laut den Tisch und die Teller vor ihr. Das Erbrochene traf auch Elisabeths Kleid, die sofort aufsprangund mit erhobener Hand Thomas zurief: »Aufhören, aufhören.«
Er dachte an Dunnes Hand im Augenblick des Todes, während er zur Schwiegermutter lief und hörte, daß sie furzte, ja mehr als das. Nach dem Geruch zu urteilen, hatte sie in die Hose gemacht. Sie schnappte nach Luft und spuckte die letzten Reste aus.
Zusammen mit Elisabeth hielt er sie. Er schaute Elisabeth an, sah ihre totale Abhängigkeit von der Mutter, nur von der Mutter, genauso wie er eigentlich total von Elisabeth abhängig war, nur von Elisabeth.
»Nur ruhig, Tulla«, sagte er.
»Aufhören, Thomas!« wiederholte Elisabeth. Sie wollte die alleinige Kontrolle in dieser Situation. Im Saal war es totenstill. Er fühlte Tullas Puls, stellte fest, daß er hoch und unregelmäßig war.
Und da spürte er, daß ein neuer Flimmeranfall kam. Von einer Sekunde zur anderen wandelte sich sein Wohlbefinden. Er unterdrückte ein Stöhnen, wußte, was ihm bevorstand. Den restlichen Abend würde er sich krank fühlen. Es hatte sich inzwischen in ihm schon so viel Streß aufgestaut, daß der Anfall vielleicht andauerte, bis sie in zwei Tagen im Flugzeug nach Chicago saßen, aber daran wollte er jetzt nicht denken.
»Wir müssen sie nach Hause bringen«, sagte er.
»Natürlich«, sagte Elisabeth. »Ich bringe sie heim.«
»Du bist hier heute die Hauptperson«, sagte er erzürnt und gleichzeitig nervös, weil alle im Saal zuhörten. » Ich kümmere mich um sie.«
Elisabeth schüttelte heftig den Kopf. »Es ist besser, wenn du hierbleibst«, sagte sie. Sie war fast genauso bleich im Gesicht wie die Mutter. Da kam Janne.
» Ich übernehme Mutter!« rief sie. Die Stimme war so scharf, daß Elisabeth zusammenzuckte.
»Willst du das tun?« fragte sie dankbar.
Janne nickte. »Natürlich.«
»Nein, ich will, daß mich Elisabeth heimbringt!« Tulla sprach mit zitternder Stimme und versuchte, aufzustehen.
»Still jetzt, Mutter«, schrie Janne und drückte sie wieder auf den Stuhl. Thomas Brenner fühlte sich plötzlich leer und überflüssig. Er war mitten aus seiner Rede gerissen worden, aus dem Geständnis seines Lebens. Jetzt war es sowieso zu spät. Janne übernahm die Kontrolle, winkte Andreas, der schließlich begriff, daß auch er den Schwestern und der Mutter beistehen mußte.
Thomas merkte, wie die Wut in ihm aufstieg. Die Wut auf Tulla, die mit aller Gewalt an diesem Fest hatte teilnehmen müssen und der es gelungen war, noch vor dem
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