Die Unsterblichen
endlich klingelt, schnappen wir uns alle unsere Sachen und gehen zum Unterricht. Sobald Damen außer Hörweite ist, wende ich mich an meine Freunde und frage: »Wie ist der denn an unseren Tisch gekommen?« Dabei schäme ich mich dafür, wie schrill und anklagend meine Stimme klingt.
»Er wollte gern im Schatten sitzen, also haben wir ihm einen Platz angeboten«, meint Miles achselzuckend, wirft seine Flasche in die Recycling-Tonne und geht zum Schulgebäude voraus. »Keine krumme Tour, keine heimtückische Verschwörung, um dich in Verlegenheit zu bringen.«
»Also, auf den Spruch mit dem Anstarren hätte ich durchaus verzichten können«, knurre ich und weiß, dass das albern und überempfindlich klingt. Ich möchte nicht aussprechen, was ich wirklich denke, möchte meine Freunde nicht mit der durchaus angebrachten, aber unfreundlichen Frage kränken: Warum gibt sich ein Typ wie Damen mit uns ab?
Im Ernst. Unter allen Schülern an dieser Schule, all den coolen Cliquen, denen er sich anschließen könnte, warum in aller Welt sollte er sich ausgerechnet zu uns setzen - zu den drei größten Außenseitern?
»Reg dich ab, er fand es witzig«, erwidert Miles. »Außerdem kommt er heute Abend bei dir vorbei. Ich hab ihm gesagt, er soll so gegen acht da sein.«
»Du hast was?« Ungläubig starre ich ihn an, und plötzlich fällt mir wieder ein, wie Haven während der ganzen Mittagspause darüber nachgedacht hat, was sie anziehen soll, während Miles überlegt hat, ob er noch Zeit für einmal Spray-Bräunen hat. Jetzt wird alles klar.
»Na ja, allem Anschein nach kann Damen Football ebenso wenig ausstehen wie wir, was wir rein zufällig während Havens kleinem Verhör an unserem Tisch herausgefunden haben, kurz bevor du dazugekommen bist.« Haven lächelt und macht einen Knicks; ihre Knie in den Netzstrümpfen knicken nach beiden Seiten weg. »Und da er neu ist und eigentlich sonst niemanden kennt, haben wir uns gedacht, wir schnappen ihn uns ganz für uns allein und geben ihm gar nicht erst die Möglichkeit, sich mit anderen anzufreunden.«
»Aber -« Unsicher, wie der Satz weitergehen soll, gerate ich ins Stocken. Alles, was ich weiß, ist, dass ich nicht will, dass Damen vorbeikommt, nicht heute Abend und überhaupt niemals.
»Ich schaue dann so nach acht vorbei«, verkündet Haven.
»Meine Gruppe ist um sieben zu Ende, da habe ich gerade genug Zeit, nach Hause zu fahren und mich umzuziehen. Und übrigens, ich reserviere mir hiermit schon mal den Platz neben Damen im Jacuzzi.«
»Das kannst du nicht machen!«, empört sich Miles. »Das lasse ich nicht zu!«
Doch sie winkt lediglich über die Schulter, während sie zum Unterricht davonhopst, und ich wende mich an Miles und frage: »Welche Gruppe ist es denn heute?«
Er öffnet die Klassentür und lächelt. »Freitag sind die Vielfraße dran.«
Haven ist das, was man einen Selbsthilfegruppen-Junkie nennen würde, sie ist süchtig nach anonymen Gruppentherapie-Sitzungen. In der kurzen Zeit, seit ich sie kenne, hat sie an Treffen für Alkoholiker, Junkies, Nikotinabhängige, Menschen, die in Beziehungen klammern, Schuldner, Spielsüchtige, Sozialphobiker, Internetsüchtige, manische Sammler und Menschen mit übertriebener Vorliebe für Obszönitäten teilgenommen. Allerdings ist dies, soweit ich weiß, ihre erste Gruppe für Leute mit Essstörungen, die zur Völlerei neigen. Nur ist Haven mit ihren eins fünfundfünfzig und dem schlanken, grazilen Körper einer Porzellan-Ballerina ganz bestimmt kein Vielfraß. Sie ist auch keine Alkoholikerin, hat keine Schulden und ist nicht spielsüchtig oder hat sonst irgendeines von all diesen Problemen. Sie wird nur von ihren total ichbezogenen Eltern ignoriert, deshalb sucht sie Liebe und Bestätigung so ziemlich überall, wo sie sie nur kriegen kann.
Zum Beispiel diese ganze Gothic-Nummer. Es ist gar nicht so, dass sie so sehr darauf abfährt. Das sieht man ziemlich deutlich daran, dass sie ständig hopst anstatt schlaff durch die Gegend zu schleichen. Und daran, dass ihr Joy-Division-Poster an der hellrosa Tapete ihrer Ballerina-Phase hängt, die noch gar nicht lange zurückliegt (das war kurz nach ihrer Popper-Phase).
Haven hat einfach nur gemerkt, dass man in einer Stadt voller Blondinen in Designer-Klamotten am ehesten auffällt, wenn man sich anzieht wie die Fürstin der Finsternis.
Nur klappt das Ganze nicht wirklich so gut, wie sie gehofft hat. Als ihre Mutter sie zum ersten Mal zu Gesicht bekam, hat sie
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