Die Unsterblichen
auch auf mich auswirkt. Plötzlich ist mir schwindlig und übel, und ich fühle mich so benommen, dass ich, als ich einen Blick in die Spiegel werfe, eine lange Kette aus Damens vor mir sehe.
Ich stolpere in die Damentoilette, umklammere den Marmortresen und bemühe mich, zu Atem zu kommen. Als ich mich mit aller Gewalt auf die Orchideentöpfe, die duftende Handlotion und den Stapel flauschiger Handtücher konzentriere, der auf einem großen Porzellantablett ruht, werde ich allmählich ruhiger, finde meine Mitte wieder, ruhe mehr in mir.
Wahrscheinlich habe ich mich so sehr an all die willkürliche Energie gewöhnt, auf die ich überall stoße, dass ich vergessen habe, wie überwältigend es sein kann, wenn meine Schutzschilde nicht hochgefahren sind und mein iPod zuhause liegt. Doch in dem elektrischen Schlag, den ich bekommen habe, als Sabine ihre Hand auf meine gelegt hat, war eine so unglaubliche Einsamkeit, eine solche stille Traurigkeit, dass es sich angefühlt hat wie ein Schlag in die Magengrube.
Besonders als mir klar wurde, dass es meine Schuld war.
Sabine ist einsam, auf eine Art und Weise, die ich zu ignorieren versucht habe. Denn obwohl wir zusammenwohnen, sehen wir uns nicht ständig. Für gewöhnlich ist sie bei der Arbeit, ich bin für gewöhnlich in der Schule, und die Abende und die Wochenenden verbringe ich in meinem Zimmer oder bin mit meinen Freunden unterwegs. Ich vergesse wohl manchmal, dass ich nicht die Einzige bin, die andere Menschen vermisst, dass sie sich, obgleich sie mich aufgenommen und sich alle Mühe gegeben hat zu helfen, noch immer ebenso leer und allein fühlt wie an dem Tag, an dem das alles passiert ist.
Doch so gern ich ihr auch die Hand reichen, so gern ich ihren Schmerz auch lindern möchte, ich kann einfach nicht. Ich bin zu kaputt, zu sonderbar. Ich bin ein Freak, der Gedanken hört und mit den Toten redet. Und ich kann nicht riskieren, dass jemand das herausfindet, kann es nicht riskieren, irgendjemanden zu nahe an mich heranzulassen, niemanden, nicht einmal sie. Das Beste, was ich tun kann, ist, einfach die Highschool hinter mich zu bringen, damit ich mich aufs College absetzen und sie ihr Leben weiterleben kann. Vielleicht kann sie sich dann mit diesem Mann zusammentun, der im selben Gebäude arbeitet wie sie. Der, den sie noch gar nicht kennt. Der, dessen Gesicht ich in dem Moment gesehen habe, als ihre Hand meine berührt hat.
Ich fahre mir mit den Fingern durchs Haar, trage noch mal Lipgloss auf und gehe zurück zu unserem Tisch, wild entschlossen, mir ein bisschen mehr Mühe zu geben und dafür zu sorgen, dass sie sich besser fühlt - und das alles, ohne meine Geheimnisse zu gefährden. Als ich mich wieder auf meinen Stuhl setze, nippe ich an meinem Glas und lächele: »Alles in Ordnung. Wirklich.« Und ich nicke nachdrücklich, damit sie mir glaubt, ehe ich hinzufüge: »Also, jetzt erzähl doch mal, irgendwelche spannenden Fälle in der Kanzlei? Irgendwelche tollen Männer bei euch im Haus?«
Nach dem Essen warte ich draußen, während Sabine sich anstellt, um den Parkservice zu bezahlen. Und ich bin so gebannt von dem Drama, das sich zwischen der künftigen Braut und ihrer Trauzeugin - ihrer sogenannten Ehrendame - vor mir abspielt, dass ich richtig zusammenzucke, als ich eine Hand auf meinem Ärmel spüre.
»Oh, hi«, stoße ich hervor, und Wärme und Kribbeln erfüllen meinen Körper, sobald mein Blick dem seinen begegnet.
»Du siehst toll aus«, meint Damen, und sein Blick wandert an meinem Kleid hinunter bis zu meinen Schuhen, ehe er langsam zu meinen Augen zurückkehrt. »Ohne deine Kapuze hätte ich dich fast nicht erkannt.« Er lächelt. »War das Essen gut?«
Ich nicke. So nervös, wie ich bin, staune ich, dass ich sogar das fertigbringe.
»Ich habe dich im Flur gesehen. Ich hätte ja Hallo gesagt, aber du hattest es anscheinend so eilig.«
Ich starre ihn an und frage mich, was er hier zu suchen hat, ganz allein in diesem Nobelhotel am Freitagabend. Gekleidet in einen schwarzen Wollblazer, ein Hemd mit offenem Kragen, Designerjeans und diese Stiefel - ein Outfit, das für einen Jungen in seinem Alter eigentlich viel zu gestylt ist, aber irgendwie gerade richtig aussieht.
»Hab Besuch von außerhalb«, beantwortet er die Frage, die ich noch gar nicht gestellt habe.
Während ich noch überlege, was ich als Nächstes sagen soll, taucht Sabine auf. Die beiden geben sich die Hand, und ich sage: »Damen und ich gehen auf dieselbe Schule.«
Damen
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