Die Unsterblichen
Tisch zurück und kommt auf mich zu, während ich mit irgendwelchen Papieren herumhantiere und so tue, als hätte ich ihn nicht gesehen.
»Hey«, sagt er und setzt sich auf seinen Platz. Tut so, als wäre alles völlig normal. Als hätte er mich nicht vor weniger als achtundvierzig Stunden geküsst und sich dann vom Acker gemacht.
Ich lege die Wange in die Hand und zwinge mein Gesicht zu einem Gähnen, in der Hoffnung, gelangweilt und müde rüberzukommen, erschöpft von Aktivitäten, die er sich gar nicht vorstellen kann. Dabei kritzele ich auf meinem Schreibblock herum, mit so zittrigen Fingern, dass mir der Stift aus der Hand rutscht.
Ich bücke mich, um ihn aufzuheben, und als ich wieder hochkomme, finde ich eine rote Tulpe auf meinem Tisch.
»Was ist? Sind dir die weißen Rosenknospen ausgegangen?«, erkundige ich mich und blättere Bücher und Unterlagen durch, als hätte ich etwas ganz Wichtiges zu tun.
»Ich würde dir niemals eine weiße Rosenknospe schenken«, sagt er, und sein Blick sucht den meinen.
Doch ich weigere mich, ihm in die Augen zu sehen, lehne es ab, mich in sein sadistisches Spielchen hineinziehen zu lassen. Ich greife nach meinem Rucksack und gebe vor, als würde ich darin nach etwas suchen. Und fluche leise vor mich hin, als ich sehe, dass er voller roter Tulpen ist.
»Du bist ein absolutes Tulpenmädchen - rote Tulpen.« Er lächelt.
»Na, hab ich aber ein Glück«, knurre ich, lasse meinen Rucksack fallen und rutsche an den äußersten Rand meines Stuhles. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was das alles zu bedeuten hat.
Zur Lunchzeit bin ich verschwitzt und völlig im Eimer. Überlege wild, ob Damen wohl an unserem Tisch sein wird, ob Haven dort sein wird - denn obwohl ich seit Samstagabend nicht mehr mit ihr gesprochen habe, würde ich darauf wetten, dass sie immer noch böse auf mich ist. Obwohl ich während der dritten Stunde, in Chemie, innerlich eine komplette Rede eingeübt habe, sind in dem Augenblick, wo ich sie vor mir sehe, sämtliche Worte schlagartig weg.
»Na, sieh mal, wer da ist«, bemerkt Haven und sieht mich an.
Ich rutsche neben Miles auf die Bank, der viel zu sehr damit beschäftigt ist, eine SMS zu tippen, um mich auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Unwillkürlich frage ich mich, ob ich vielleicht versuchen sollte, neue Freunde zu finden - nicht dass irgendjemand mit mir befreundet sein will.
»Ich habe Miles gerade erzählt, dass er im Nocturne dermaßen was verpasst hat, nun ist er wild entschlossen, mich zu ignorieren.« Haven zieht ein finsteres Gesicht.
»Nur weil ich mir das schon in Geschichte die ganze Zeit anhören musste, und danach warst du immer noch nicht fertig, und ich bin deinetwegen zu spät zu Spanisch gekommen.« Kopfschüttelnd fährt er mit seinen Daumenexerzitien fort.
Haven zuckt mit den Schultern. »Du bist ja nur neidisch, weil du nicht dabei warst.« Dann sieht sie mich an und versucht einen Rückzug. »Nicht dass deine Party nicht cool war oder so, denn sie war total cool. Es ist nur - da im Nocturne, das war mehr so meine Szene, weißt du? Ich meine, das verstehst du doch, oder?«
Achselzuckend poliere ich meinen Apfel am Ärmel; ich habe wenig Lust, noch mehr über das Nocturne zu hören, über ihre Szene oder über Drina. Doch als ich ihr endlich ins Gesicht sehe, stelle ich erschrocken fest, dass sie ihre üblichen gelben Kontaktlinsen gegen brandneue grüne ausgetauscht hat.
Ein so wohl bekanntes Grün, dass es mir den Atem verschlägt.
Ein Grün, das man nur als Drina-Grün bezeichnen kann.
»Das hättest du echt sehen müssen, da stand eine megalange Schlange vor der Tür, aber als die Drina gesehen haben, haben sie uns gleich reingelassen. Wir brauchten nicht mal zu bezahlen! Für gar nichts, den ganzen Abend gab's alles umsonst! Ich hab sogar in ihrem Zimmer übernachtet. Sie wohnt in einer ganz tollen Suite im St. Regis, bis sie was für länger findet. Das solltest du sehen: Blick aufs Meer, Jacuzzi, Minibar, das volle Programm!« Die smaragdgrünen Augen vor Begeisterung weit aufgerissen, sieht sie mich an und wartet auf eine enthusiastische Reaktion, mit der ich beim besten Willen nicht aufwarten kann.
Ich presse die Lippen zusammen und lasse den Rest ihres Äußeren auf mich wirken, bemerke, dass ihr Eyeliner weicher ist, rauchiger, mehr wie Drinas, und dass sie ihren blutroten Lippenstift mit einem sanfteren, rosigeren, Drina-ähnlichen Farbton ersetzt hat. Selbst ihr Haar, das sie geglättet hat, seit
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