Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Gelegenheiten mussten die Zellen ihre Reise im Frachtraum antreten. Dann gab Gey sie in Löcher, die er in Eisblöcke gesägt hatte, damit sie nicht zu warm wurden; das Eis packte er in Pappschachteln mit Sägemehl. Wenn die Sendung versandfertig war, warnte Gey den Empfänger vor: Die Zellen würden in seiner Stadt »Metastasen bilden«, man solle also bereitstehen, um die Sendung sofort abzuholen und ins Labor zu bringen. Wenn alles gut ging, überlebten die Zellen. Wenn nicht, packte Gey eine neue Charge ein und versuchte es noch einmal.
Er schickte HeLa-Zellen an Wissenschaftler in Texas, Indien, New York, Amsterdam und vielen anderen Orten. Diese Wissenschaftler gaben sie an Kollegen weiter, die sie wiederum
weitergaben. Wenn Gey von einem Institut zum anderen flog, um seine Kulturmethoden vorzuführen und beim Aufbau neuer Labors mitzuwirken, hatte er immer Röhrchen mit Henriettas Zellen in seiner Brusttasche. Und den Wissenschaftlern, die in sein Labor kamen, um von ihm zu lernen, gab er in der Regel zum Abschied ein oder zwei kleine Gefäße voller HeLa-Zellen mit. In Briefen bezeichneten Gey und manche seiner Kollegen die Zellen schon bald als seine »kostbaren Babys«.
Dass Henriettas Zellen so kostbar waren, hatte einen besonderen Grund: Wissenschaftler konnten mit ihnen Experimente machen, die mit lebenden Menschen unmöglich gewesen wären. Sie schnitten die HeLa-Zellen auseinander und bearbeiteten sie unaufhörlich mit Giftstoffen, Strahlen und Krankheitserregern. Sie bombardierten sie mit Medikamenten in der Hoffnung auf einen Wirkstoff, der bösartige Zellen abtötete, normale aber verschonte. Um das Krebswachstum bei unterdrückter Immunfunktion zu studieren, injizierten sie die HeLa-Zellen in den Organismus von Ratten mit gestörtem Immunsystem, bei denen sich daraufhin bösartige Tumore wie bei Henrietta entwickelten. Wenn die Zellen dabei starben, war das nicht weiter schlimm: Die Wissenschaftler brauchten nur auf ihren permanent wachsenden HeLa-Vorrat zurückzugreifen und konnten getrost noch einmal von vorn anfangen.
Obwohl die HeLa-Zellen sich so verbreiteten und zu einer Fülle neuer Forschungsarbeiten anregten, wurde in den Medien nicht über diese verblüffende Zelllinie und ihren potenziellen Beitrag zur Krebsbekämpfung berichtet. In seinem einzigen Fernsehauftritt nannte Gey weder Henrietta noch ihre Zellen mit Namen, die Öffentlichkeit erfuhr also nichts von HeLa. Aber selbst wenn es bekannt gewesen wäre, hätte man vermutlich nicht viele Gedanken darauf verwendet. Schon seit Jahrzehnten berichtete die Presse, die Zellkultur werde die Welt von Krankheiten befreien und den Menschen die Unsterblichkeit
schenken. 1951 nahm die Öffentlichkeit solche Versprechen längst nicht mehr ernst. Zellkulturen waren weniger ein medizinisches Wunder als vielmehr Requisiten beängstigender Science-Fiction-Filme.
Begonnen hatte alles am 17. Januar 1912. Damals züchtete der französische Chirurg Alexis Carrel, der am Rockefeller Institute arbeitete, sein »unsterbliches Hühnerherz«.
Schon vor der Jahrhundertwende hatten Wissenschaftler sich darum bemüht, lebende Zellen zu züchten, aber ihr Material war stets abgestorben. Deshalb glaubten viele Fachleute, es sei unmöglich, Gewebe außerhalb des Körpers am Leben zu erhalten. Carrel nun war entschlossen, das Gegenteil zu beweisen. Mit 39 Jahren hatte er bereits die erste Methode zum Zusammennähen von Blutgefäßen erfunden und mit ihrer Hilfe den ersten Bypass am Herzen gelegt; außerdem entwickelte er Methoden zur Organtransplantation. Er hoffte, es werde eines Tages möglich sein, ganze Organe im Labor heranzuzüchten und riesige Gefäße mit Lungen, Lebern, Nieren und Gewebe zu füllen, die man dann zur Transplantation mit der Post verschicken konnte. Als ersten Schritt bemühte er sich darum, eine Gewebescheibe aus einem Hühnerherz in der Kultur zu züchten, und zur allgemeinen Verblüffung klappte es. Die Herzzellen schlugen weiter, als befänden sie sich noch im Körper des Tieres.
Einige Monate später erhielt Carrel für seine Methode zum Vernähen von Blutgefäßen und seine Beiträge zur Organtransplantation den Nobelpreis, und nun war er mit einem Schlag berühmt. Der Preis hatte nichts mit dem Hühnerherz zu tun, aber in den Artikeln über die Auszeichnung wurden die unsterblichen Hühnerzellen mit seinen Arbeiten zur Transplantation zusammengebracht, und plötzlich hörte es sich an, als habe er den Quell ewiger Jugend
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