Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
geschwemmt werden. Die Tumore hatten Henriettas Harnleiter völlig blockiert, so dass die Ärzte nicht einmal mehr einen Katheter in die Blase legen und sie entleeren konnten. Nieren, Blase, Eierstöcke und Gebärmutter waren von den baseballgroßen Tumoren fast völlig verdrängt worden. Und die anderen Organe wurden von kleinen weißen Geschwüren bedeckt, als wären sie mit Perlen gefüllt.
Mary stand neben Wilbur und wartete, während er Henriettas Bauch zunähte. Am liebsten wäre sie sofort in ihr Labor zurückgelaufen, stattdessen aber starrte sie Henriettas Arme und Beine an – bloß, um ihr nicht in die leblosen Augen sehen zu müssen. Dann fiel ihr Blick auf die Füße der Toten, und sie schnappte nach Luft: Der leuchtend rote Lack auf Henriettas Zehennägeln war an vielen Stellen abgeblättert.
»Als ich diese Zehennägel gesehen habe, wäre ich fast in Ohnmacht gefallen«, erzählte Mary mir viele Jahre später. »Ich habe gedacht: O je, das ist ja ein richtiger Mensch. Ich habe mir vorgestellt, wie sie im Badezimmer sitzt und sich die Zehennägel lackiert. Dabei ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass diese Zellen, mit denen wir die ganze Zeit gearbeitet hatten und die wir in die ganze Welt schickten, von einer lebendigen Frau stammten. So hatte ich das noch nie gesehen.«
Ein paar Tage später unternahm Henriettas Leiche die lange Zugfahrt von Baltimore nach Clover. Sie lag in einer einfachen Kiste aus Kiefernholz – mehr konnte Day sich nicht leisten. Als der lokale Leichenbestatter den Sarg mit Henrietta am Bahndepot von Clover abholte und auf einen klapprigen Lastwagen lud, regnete es. Langsam fuhr er durch das Ortszentrum von Clover, vorüber an dem Eisenwarenladen, wo Henrietta so oft alten weißen Männern beim Damespiel zugesehen hatte, und dann in die Lacks Town Road, um die Kurve unmittelbar vor dem Shack, wo sie noch ein paar Monate zuvor getanzt hatte. Als der Leichenbestatter nach Lacks Town kam, standen die Vettern und Cousinen auf den Veranden Spalier, um Henrietta vorüberfahren zu sehen. Sie hatten die Hände in die Hüften gestützt oder hielten Kinder fest, schüttelten die Köpfe und wandten sich flüstern an Gott, den Herrn.
Cootie kam in seinen Garten gehumpelt, blickte geradewegs in den strömenden Regen und rief: »Liebster Jesus, lass diese
arme Frau in Frieden ruhen, hörst du? Sie hat schon genug durchgemacht!«
Von einer Nachbarveranda ertönte ein vielstimmiges Amen. Ein paar hundert Meter weiter die Straße hinunter saßen Gladys und Sadie auf den zerbrochenen Holzstufen des Home-House. Sie hatten sich ein langes rosa Kleid über den Schoß gelegt, und zu ihren Füßen stand ein Korb voller Make-up, Lockenwicklern, Fläschchen mit rotem Nagellack und den beiden Münzen, die sie auf Henriettas Augen legen wollten, damit sie bei der Totenfeier geschlossen blieben. Schweigend sahen sie zu, wie der Leichenbestatter langsam über das Feld fuhr, das sich zwischen der Straße und dem Haus erstreckte. Dabei versanken die Reifen seines Wagens im roten Schlamm.
Auf dem Friedhof hinter dem Haus standen Cliff und French, die Arbeitsanzüge durchweicht und schwer vom Regen. Sie hatten fast den ganzen Tag damit zugebracht, Spaten in den steinigen Boden zu treiben und ein Grab für Henrietta auszuheben. Sie gruben an einer Stelle, dann an einer anderen, und jedes Mal trafen ihre Spaten auf die Särge unbekannter Verwandter, die anonym bestattet worden waren. Schließlich fanden sie für Henrietta eine geeignete Stelle in der Nähe des Grabsteins ihrer Mutter.
Als Cliff und Fred den Lastwagen des Leichenbestatters hörten, gingen sie zum Home-House, um beim Abladen zu helfen. Nachdem sie den Sarg in den Korridor gebracht hatten, öffneten sie die Kieferholzkiste, und Sadie begann zu weinen. Am meisten war sie nicht von Henriettas leblosem Körper gerührt, sondern von ihren Fußnägeln: Henrietta wäre lieber gestorben, als zuzulassen, dass der Lack so abblätterte.
»Du lieber Gott«, sagte Sadie, »Hennie muss Schmerzen gehabt haben, schlimmer als der Tod.«
Henriettas Leichnam lag mehrere Tage im Korridor des Home-House. Die Türen an beiden Enden blieben angelehnt,
damit der kühle, feuchte Wind hereinwehen und den Körper frisch halten konnte. Angehörige und Nachbarn wateten über das Feld, um ihr die letzte Ehre zu erweisen, und während der ganzen Zeit regnete es immer mal wieder.
Am Morgen des Tages, an dem Henrietta beerdigt wurde, stapfte Day mit Deborah,
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