Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
meisten wachsen in der Gewebekultur als Einzelzellschicht, die sich an eine Glasoberfläche anheftet; deshalb wird es ihnen sehr schnell zu eng. Sie weiter zu vermehren war mühsam: Immer wieder musste man sie von einem Kulturgefäß abkratzen und in ein neues geben, damit ihnen mehr Raum zur Verfügung stand. Wie sich aber herausstellte, waren die HeLa-Zellen nicht besonders wählerisch: Sie konnten auch wachsen, wenn sie in einem Kulturmedium schwammen, das ständig von einem Magnetrührer bewegt wurde – eine wichtige Methode,
die von Gey entwickelt wurde und heute als Suspensionskultur bezeichnet wird. Die HeLa-Zellen unterlagen also nicht den gleichen räumlichen Beschränkungen wie andere Zellen, sondern teilten sich so lange, bis ihnen die Nährstoffe im Kulturmedium ausgingen. Je größer das Gefäß mit der Nährlösung, desto mehr Zellen wuchsen darin heran. Wenn HeLa-Zellen also für Polioviren anfällig waren – was nicht auf alle Zellen zutrifft -, hatte man damit das Problem der Massenproduktion gelöst, und man konnte den Impfstoff auch ohne Millionen von Affenzellen testen.
Im April 1952 machte sich Gey zusammen mit einem Kollegen aus dem Beraterstab der NFIP – er hieß William Scherer und war ein junger Postdoc an der University of Minnesota – daran, Henriettas Zellen mit Polioviren zu infizieren. Schon nach wenigen Tagen wussten sie, dass die HeLa-Zellen sogar noch empfindlicher auf das Virus reagierten als alle anderen Gewebekulturzellen zuvor. Jetzt war klar: Sie hatten genau das gefunden, wonach die NFIP gesucht hatte.
Und noch etwas wussten sie: Bevor sie mit der Massenproduktion der Zellen beginnen konnten, mussten sie eine neue Methode finden, um sie zu verschicken. Sein Luftfracht-Transportsystem funktionierte gut, solange Gey nur gelegentlich ein paar Zellen an Kollegen verschickte, für den Großversand aber war es zu teuer. Und die Zucht von Milliarden Zellen würde niemandem etwas nützen, wenn man diese Zellen anschließend nicht dahin bringen konnte, wo sie gebraucht wurden. Also begannen sie zu experimentieren.
Am Heldengedenktag 1952 füllte Gey ein paar Röhrchen mit HeLa-Zellen und so viel Nährlösung, dass sie darin ein paar Tage überleben konnten. Die Röhrchen packte er in eine mit Kork ausgekleidete Dose, die Eis enthielt, so dass eine übermäßige Erwärmung vermieden wurde. Dann tippte er genaue Anweisungen für die Ernährung und Handhabung der Zellen und
schickte Mary mit dem Paket zur Post: Es sollte an Scherer in Minnesota gehen. Wegen des Feiertages waren fast alle Postämter in Baltimore geschlossen, nur die Hauptpost in der Innenstadt hatte geöffnet. Mary musste mit dem Bus fahren und mehrmals umsteigen, aber schließlich hatte sie es überstanden. Auch die Zellen überstanden es: Nachdem das Päckchen vier Tage später in Minnesota eingetroffen war, stellte Scherer den Inhalt in einen Brutschrank, und sie begannen zu wachsen. Zum ersten Mal hatte jemand erfolgreich lebende Zellen mit der Post verschickt.
In den folgenden Monaten wollten Gey und Scherer verschiedene Versandwege ausprobieren und sich vergewissern, dass die Zellen auch eine lange Reise in jedem beliebigen Klima überlebten. Dazu schickten sie Röhrchen voller HeLa-Zellen per Flugzeug, Zug oder Lastwagen durch das ganze Land, von Minneapolis über Norwich nach New York und wieder zurück. Nur in einem einzigen Röhrchen starben die Zellen ab. Als man bei der NFIP hörte, dass HeLa-Zellen anfällig für Polioviren waren und sich mit geringem finanziellen Aufwand in großen Mengen züchten ließen, schloss die Organisation sofort einen Vertrag mit William Scherer: Er sollte am Tuskegee Institute, einer der angesehensten Farbigenuniversitäten des Landes, ein Versandzentrum für HeLa-Zellen aufbauen. Dass gerade dieses Institut ausgewählt wurde, lag an Charles Bynum, dem Leiter der »Negeraktivitäten« bei der Stiftung. Bynum – Dozent für Naturwissenschaften, Bürgerrechtsaktivist und der erste farbige Manager der Stiftung – wollte das Zentrum am Tuskegee Institute ansiedeln, weil dies Forschungsmittel von vielen hunderttausend Dollar, zahlreiche Arbeitsplätze und Ausbildungsmöglichkeiten für farbige Nachwuchswissenschaftler mit sich bringen würde.
Innerhalb weniger Monate baute eine aus sechs farbigen Wissenschaftlern und Assistentinnen bestehende Arbeitsgruppe am
Tuskegee Institute eine Zellfabrik auf, wie man sie bis dahin noch nicht gekannt hatte. An den Wänden standen
Weitere Kostenlose Bücher