Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
verschlossen sie luftdicht und stapelten sie in einem begehbaren Brutschrank. Dort blieben sie, bis sie für den Versand verpackt wurden.
Die größten Kunden von Microbiological Associates waren Institutionen wie die NIH, die Daueraufträge mit festen Zeitplänen für die Lieferung von Millionen HeLa-Zellen vergaben. Aber Wissenschaftler aus der ganzen Welt konnten auch Einzelbestellungen aufgeben. Sie zahlten weniger als 50 Dollar, und Microbiological Associates lieferte ihnen über Nacht die Gefäße mit den HeLa-Zellen. Reader hatte Verträge mit mehreren großen Fluggesellschaften, und sobald eine Bestellung einging, schickte er einen Kurier zur nächsten verfügbaren Maschine; später wurden die Zellen dann am Ankunftsflughafen abgeholt und von Taxis an die Institute geliefert. Allmählich entstand eine milliardenschwere Vertriebsmaschinerie für biologisches Material von Menschen.
Reader ließ sich von den führenden Köpfen des Fachgebiets erklären, welche Produkte am dringendsten gebraucht wurden und wie man sie herstellt. Zu seinen wissenschaftlichen Beratern gehörte auch Leonard Hayflick, einer der berühmtesten heute noch lebenden Wissenschaftler aus der Frühzeit der Zellkultur. Als ich mich mit ihm unterhielt, sagte er: »Microbiological Associates und Sam Reader haben unser Fachgebiet damals revolutioniert, und glauben Sie mir, das Wort Revolution benutze ich gewiss nicht leichtfertig.«
Als Readers Unternehmen wuchs, ging die Nachfrage nach Zellen aus Tuskegee zurück. Die NIFP schloss ihr HeLa-Produktionszentrum, weil Firmen wie Microbiological Associates die Wissenschaftler mit allen benötigten Zellen versorgten. Schon bald waren die HeLa-Zellen nicht mehr die einzigen, die zu Forschungszwecken ge- und verkauft wurden: Nachdem Nährmedien und Gerätschaften standardisiert waren, wurde die Zellkultur einfacher, und Wissenschaftler züchteten nun alle möglichen Arten von Zellen. Aber keine davon wuchs in derart gewaltigen Mengen wie HeLa.
Als der Kalte Krieg an Schärfe zunahm, setzten manche Wissenschaftler Henriettas Zellen großen Strahlungsdosen aus; sie wollten wissen, wie eine Atombombe die Zellen zerstört und wie man solche Schäden rückgängig machen kann. Andere steckten sie in besondere Zentrifugen, die sehr schnell rotierten und im Inneren den 100 000-fachen Druck der Schwerkraft erzeugten. Damit wollte man herausfinden, wie menschliche Zellen unter Extrembedingungen wie beim Tiefseetauchen oder in der Raumfahrt reagieren.
Die Möglichkeiten schienen unbegrenzt. Irgendwann hörte eine Mitarbeiterin, die bei der Young Women’s Christian Association für Gesundheitserziehung zuständig war, von der Gewebekultur und erkundigte sich bei einer Wissenschaftlergruppe, ob sie den älteren Frauen bei der YWCA mit den Zellen vielleicht helfen könnten. »Sie klagen darüber, dass die Haut und das Gewebe von Gesicht und Hals unausweichlich die jahrelange Abnutzung zeigen«, schrieb sie. »Mein Gedanke war: Wenn Sie wissen, wie man Gewebe am Leben erhält, müssten Sie doch eigentlich auch einen Weg kennen, um die Reserven im Bereich von Hals und Gesicht zu mobilisieren.« Henriettas Zellen konnten zwar der Halspartie älterer Frauen nicht zu neuer Elastizität verhelfen, aber Kosmetik- und Pharmaunternehmen in den Vereinigten Staaten und Europa
verwendeten sie nun anstelle von Versuchstieren, wenn sie testen wollten, ob neue Produkte und Medikamente die Zellen schädigten. Wissenschaftler schnitten HeLa-Zellen durch und zeigten, dass sie selbst dann noch weiterleben, wenn der Zellkern entfernt wird. Außerdem entwickelten sie neue Methoden, mit denen man Substanzen in Zellen spritzen konnte, ohne diese dabei zu zerstören. An HeLa-Zellen erprobten sie die Wirkung von Steroiden, Medikamenten zur Chemotherapie, Hormonen, Vitaminen und Umweltbelastungen; sie infizierten sie mit Tuberkuloseerregern, Salmonellen und den Bakterien, die Scheidenentzündungen hervorrufen.
Auf Wunsch der US-Behörden nahm Gey Henriettas Zellen 1953 mit in den Fernen Osten, um dort das hämorrhagische Fieber zu studieren, an dem die amerikanischen Soldaten starben. Außerdem injizierte er sie auch Ratten, um festzustellen, ob sie bei den Nagern Krebs verursachten. Vor allem aber bemühte er sich darum, von den HeLa-Zellen wegzukommen: Er konzentrierte sich darauf, normale und krebsartig veränderte Zellen desselben Patienten zu züchten, um sie dann miteinander zu vergleichen. Aber er konnte den scheinbar endlosen
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