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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Begegnung mit Benjamin (er schien nicht mehr wie Ben zu sein) bestand darin, dass er sie fragte, ob sie Obstsalat möchte, und dann vergaß, ihn ihr zu bringen. Es wurde nicht getanzt, aber es gab massenweise zu essen, und Ursula tröstete sich, indem sie sich an einer beeindruckenden Auswahl von Nachspeisen satt aß. Mrs. Cole, die das Essen kontrollierte, sagte: »Du meine Güte, du bist so ein kleines Dingchen, wo steckst du nur das viele Essen hin?«
    So ein kleines Dingchen, dachte Ursula, als sie niedergeschlagen nach Hause ging, dass niemand sie auch nur zu bemerken schien.
    »Hast du Kuchen mitgebracht?«, fragte Teddy, als sie durch die Tür trat.
    »Massenweise«, sagte sie. Sie setzten sich auf die Terrasse und teilten sich das große Stück Geburtstagstorte, das Mrs. Cole ihr mitgegeben hatte. Auch Jock bekam seinen fairen Anteil. Als ein großer Fuchs im Dämmerlicht über den Rasen trottete, warf Ursula ein Stück in seine Richtung, aber er betrachtete den Kuchen mit der Verachtung eines Fleischfressers.

Das Land des Neubeginns
    August 1933
    E r kommt! Er kommt!«, rief eins der Mädchen.
    »Kommt er? Endlich?«, fragte Ursula und blickte zu Klara.
    »Offenbar. Gott sei Dank. Bevor wir vor Hunger und Langeweile sterben«, sagte sie.
    Sie waren beide gleichermaßen verwirrt und amüsiert von der possenhaften Heldenverehrung der jüngeren Mädchen. Sie hatten fast den ganzen heißen Nachmittag über am Straßenrand gewartet, ohne etwas zu essen oder zu trinken außer einem Eimer Milch, den zwei Mädchen von einem nahen Bauernhof geholt hatten. Ein paar von ihnen hatten gerüchteweise gehört, dass der Führer heute auf seinen Berghof fahren würde, und seit Stunden saßen sie geduldig herum. Mehrere Mädchen hatten auf dem Grasstreifen eine Siesta gehalten, aber keine hatte die Absicht aufzugeben, ohne einen Blick auf den Führer geworfen zu haben.
    Weiter unten an der steilen, gewundenen Straße, die nach Berchtesgaden hinaufführte, wurde Jubel laut, und sie sprangen alle auf die Füße. Ein großes schwarzes Auto fuhr an ihnen vorbei, und manche Mädchen kreischten aufgeregt, aber »er« saß nicht darin. Dann kam ein zweiter Wagen, ein großartiger schwarzer Mercedes mit offenem Verdeck, in Sichtweite, auf der Motorhaube flatterte ein Hakenkreuzfähnchen. Er fuhr langsamer als der erste Wagen, und darin befand sich in der Tat der neue Reichskanzler.
    Der Führer machte eine verkürzte Version seines Grußes, ein komisches kurzes Nach-hinten-Klappen seiner Hand, als wollte er sein Ohr nach vorn drücken, um sie besser schreien zu hören. Bei seinem Anblick sagte Hilde, die neben Ursula stand, nur »oh«, betonte diese eine Silbe allerdings mit religiöser Inbrunst. Und dann war es auch schon wieder vorbei. Hanne faltete die Hände vor der Brust und blickte drein wie eine verstopfte Heilige. »Mein Leben ist erfüllt.« Sie lachte.
    »Auf den Fotos sieht er besser aus«, sagte Klara leise.
    Die Mädchen waren den ganzen Tag schon in einer erstaunlichen Hochstimmung und stellten sich jetzt unter der Anweisung ihrer Gruppenführerin (Adelheid, eine blonde Amazone, eine bewundernswert kompetente Achtzehnjährige) zu einem Trupp auf und begannen gut gelaunt, den langen Weg zu ihrer Jugendherberge zurückzumarschieren und zu singen. (»Sie singen ständig«, schrieb Ursula an Millie. »Für meinen Geschmack ist alles ein bisschen zu lustig. Mir kommt es vor, als wäre ich im Chor einer besonders fröhlichen Volksoper.«)
    Ihr Repertoire war vielfältig – Volkslieder, altmodische Liebeslieder und aufwiegelnde, wilde patriotische Hymnen über in Blut getauchte Fahnen, und die üblichen Lagerfeuergesänge. Besonders gern schunkelten sie – sie hakten sich beieinander unter und wiegten sich seitwärts zur Musik. Als Ursula gedrängt wurde, ein Lied zu singen, stimmte sie »Auld Lang Syne« an, es war perfekt zum Schunkeln.
    Hilde und Hanne waren Klaras jüngere Schwestern, eifrige Mitglieder des BDM, des Bundes Deutscher Mädel – der weibliche Ableger der Hitlerjugend (»Wir sagen Ha-Jot«, erklärte Hilde, und sie und Hanne kicherten beim Gedanken an hübsche Jungen in Uniform.)
    Ursula hatte weder von der Hitlerjugend noch vom BDM gehört, bevor sie im Haushalt der Brenners angekommen war, doch in den zwei Wochen, die sie jetzt dort wohnte, hatten Hilde und Hanne kaum über etwas anderes gesprochen. »Es ist eine gesunde Freizeitbeschäftigung«, sagte ihre Mutter, Frau Brenner. »Es soll den

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