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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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sein wie eine Fahrt auf den Polstern, aber wenn Sie sich trauen?«
    »Na klar.«
    Er wollte weiterfahren, deswegen umarmte sie Hugh rasch und sagte: »Bis bald«, und stieg hinauf in den Führerstand, wo sie sich auf den Platz des Heizers setzte.
    »Du wirst doch auf dich aufpassen, kleiner Bär, ja?«, sagte Hugh. »In London?« Er musste das Zischen der Lokomotive überschreien. »Versprichst du mir das?«
    »Ich verspreche es«, rief sie. »Bis bald!«
    Sie drehte sich um und versuchte, ihn noch auf dem dunklen Bahnsteig zu sehen, während sich die Lokomotive in Bewegung setzte. Plötzlich fühlte sie sich schuldig, sie hatte nach dem Abendessen ein rabaukenhaftes Versteckspiel mit den Jungen gemacht. Stattdessen hätte sie, wie Hugh gesagt hatte, aufbrechen sollen, als es noch hell war. Jetzt musste Hugh den Weg allein in der Dunkelheit zurückgehen. (Sie dachte plötzlich an die arme kleine Angela, das Verbrechen von vor so vielen Jahren.) Hugh verschwand schnell in der Dunkelheit und im Rauch.
    »Das ist aber aufregend«, sagte sie zu Fred. Sie wäre nicht im Traum auf den Gedanken gekommen, dass sie ihren Vater nie wiedersehen würde.

    Aufregend, wohl wahr, aber auch ein bisschen furchterregend. Die Lokomotive war ein großes Tier aus Eisen, das mit seiner zum Leben erweckten rohen Kraft durch die Dunkelheit brauste. Sie ratterte und bebte, als wollte sie sie aus ihrem Inneren hinauskatapultieren. Ursula hatte sich noch nie überlegt, was im Führerhaus einer Lokomotive vor sich ging. Wenn überhaupt hatte sie sich einen relativ heiteren Ort vorgestellt – der Lokführer achtete auf das Gleis vor ihm, der Heizer schaufelte frohgemut Kohlen. Doch stattdessen herrschte ununterbrochen Aktivität, Heizer und Fahrer tauschten sich ständig über Steigung, Gefälle und Druck aus, entweder wurde hektisch geschaufelt oder die Luke geschlossen, der fortwährende Krach, die nahezu unerträgliche Hitze des Heizkessels, der schmierige Ruß aus den Rohren, den auch die Eisenplatten nicht abhalten konnten, die angebracht worden waren, um den Führerstand zu verdunkeln. Es war so heiß! »Heißer als in der Hölle«, sagte Fred Smith.
    Trotz der kriegsbedingten Geschwindigkeitsbegrenzung schienen sie mindestens doppelt so schnell zu fahren als üblicherweise, wenn sie in einem Waggon saß (»auf den Polstern«, dachte sie; sie musste es sich für Teddy merken, der noch immer seinem Kindheitstraum, Lokomotivführer zu werden, nachhing, obwohl er jetzt Pilot war).

    Als sie sich London näherten, sahen sie im Osten die Brände und hörten das ferne Donnern der Geschütze, doch als sie im Rangierbahnhof auf die Lokschuppen zufuhren, wurde es nahezu unheimlich still. Sie hielten an, und alles war plötzlich und dankenswerterweise ruhig.
    Fred half ihr aus dem Führerhaus. »Wir sind da, Ma’am«, sagte er. »Home sweet home. Aber leider noch nicht ganz.« Er blickte zweifelnd drein. »Ich würde Sie nach Hause begleiten, aber wir müssen die Lok ins Bett bringen. Werden Sie es allein schaffen?« Sie schienen mitten im Nirgendwo zu sein, es waren nur Gleise und Weichen und schattenhaft hochaufragende Lokomotiven zu sehen. »In Marylebone hat eine Bombe eingeschlagen. Wir sind auf der Rückseite von King’s Cross«, sagte Fred, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Es ist nicht so schlimm, wie Sie denken.« Er schaltete die schwächste seiner Taschenlampen ein, die nur knapp einen halben Meter Boden vor ihm erhellte. »Wir müssen vorsichtig sein«, sagte er, »wir sind ein begehrtes Ziel.«
    »Kein Problem«, sagte sie etwas selbstsicherer, als sie sich fühlte. »Kümmern Sie sich nicht um mich und danke. Gute Nacht, Fred.« Sie marschierte entschlossen los und stolperte sofort über eine Schiene und schrie leise gequält auf, als sie sich das Knie an den spitzen Schottersteinen im Gleisbett anstieß.
    »Miss Todd«, sagte Fred und half ihr auf. »Im Dunkeln werden Sie hier nicht rausfinden. Kommen Sie, ich bringe Sie zum Tor.« Er fasste sie am Arm und führte sie, als würden sie an einem Sonntag das Embankment entlangschlendern. Sie erinnerte sich daran, wie gut ihr Fred gefallen hatte, als sie jünger war. Es wäre wahrscheinlich einfach, sich wieder in ihn zu verlieben.
    Sie kamen zu einem großen Holztor, und er öffnete eine darin eingelassene kleine Tür.
    »Ich glaube, ich weiß, wo wir sind«, sagte sie. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, aber sie wollte Fred nicht länger zur Last fallen. »Also, noch einmal

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