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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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vielen Dank, vielleicht sehen wir uns wieder, wenn ich das nächste Mal in Fox Corner bin.«
    »Das bezweifle ich«, sagte Fred. »Ich fange morgen bei der Feuerwehr an. Es gibt jede Menge alter Knacker wie Willie, die die Züge fahren können.«
    »Schön für Sie«, sagte sie, obwohl sie wusste, wie gefährlich es bei der Feuerwehr war.

    Es war die dunkelste Verdunkelung, die sie je erlebt hatte. Sie streckte die Hand vors Gesicht und tastete sich voran, bis sie mit einer Frau zusammenstieß, die wusste, wo sie waren. Sie gingen eine halbe Meile gemeinsam.
    Nachdem sie ein paar Minuten wieder allein unterwegs gewesen war, hörte sie Schritte in ihrem Rücken und sagte, »Hier ist jemand«, damit der Besitzer der Füße sie nicht umwarf. Es war ein Mann, nur eine dunkle Gestalt, der mit ihr bis zum Hyde Park ging. Vor dem Krieg hätte niemand im Traum daran gedacht, sich bei einem Fremden unterzuhaken – vor allem nicht bei einem Mann –, doch jetzt schien die Bedrohung vom Himmel viel größer als alles, was einem aufgrund dieser wunderlichen Intimität widerfahren konnte.

    Sie dachte, dass es fast schon Morgen sein musste, als sie in Phillimore Gardens ankam, aber es war gerade erst Mitternacht. Millie, noch kostümiert, war eben erst nach Hause zurückgekehrt. »Ach, du liebe Zeit«, sagte sie, als sie Ursula sah. »Was ist dir denn passiert? Bist du in eine Explosion geraten?«
    Ursula schaute in den Spiegel und sah, dass sie völlig mit Ruß und Kohlestaub verschmiert war. »Was für ein Schreckensanblick«, sagte sie.
    »Du siehst aus wie ein Zechenarbeiter«, sagte Millie.
    »Eher wie ein Lokführer«, sagte sie und schilderte, wie sie nach Hause gekommen war.
    »Oh«, sagte Millie, »Fred Smith, der Fleischerjunge. Er war ein toller Kerl.«
    »Ist er immer noch. Ich habe Eier aus Fox Corner mitgebracht«, sagte sie und holte die Schachtel, die Sylvie ihr gegeben hatte, aus der Tasche. Die Eier lagen in Stroh, doch sie waren vom Rumpeln der Lok oder ihrem Sturz auf den Gleisen gesprungen und zerbrochen.
    Aus den geretteten Überresten machten sie am nächsten Tag ein Omelett.
    »Wunderbar«, sagte Millie. »Du solltest öfter nach Hause fahren.«

Oktober 1940
    H eute Nacht ist wirklich viel los«, sagte Miss Woolf. Eine unglaubliche Untertreibung. Sie befanden sich mitten in einem Großangriff, Bomber dröhnten über ihnen, leuchteten gelegentlich kurz auf, wenn sie in den Lichtkegel eines Suchscheinwerfers flogen. HE-Bomben blitzten und donnerten, und die großen Batterien knallten und krachten und pengten – der übliche Rabatz. Artilleriegranaten pfiffen und kreischten auf dem Weg nach oben, eine Meile pro Sekunde, bis sie funkelten und glitzerten wie Sterne, bevor sie erloschen. Bruchstücke fielen klirrend herunter. (Ein paar Tage zuvor war Mr. Simms’ Cousin vom Schrapnell des Flakfeuers im Hyde Park getötet worden. »Eine Schande, von den eigenen Leuten umgebracht zu werden«, sagte Mr. Palmer. »Irgendwie sinnlos.«) Ein rotes Glühen über Holborn deutete auf eine Ölbombe. Ralph wohnte in Holborn, aber Ursula vermutete, dass er in einer Nacht wie dieser in St. Paul’s wäre.
    »Sieht es nicht fast aus wie ein Gemälde?«, fragte Miss Woolf.
    »Von der Apokalypse vielleicht«, sagte Ursula. Vor dem Hintergrund der schwarzen Nacht brannten die Feuer in einer großen Bandbreite von Farben – Scharlachrot und Gold und Orange, Indigo und ein kränkliches Zitronengelb. Hin und wieder schossen grelle Grüns und Blaus in die Luft, wo sich eine Chemikalie entzündet hatte. Orangefarbene Flammen und dicker schwarzer Rauch schlugen aus einem Warenhaus. »Man hat gleich eine ganz andere Perspektive, nicht wahr?«, sagte Miss Woolf. Es stimmte. Es schien großartig und schrecklich, verglichen mit ihren eigenen schmutzigen kleinen Mühen. »Es macht mich stolz«, sagte Mr. Simms leise. »Wie wir kämpfen, meine ich. Ganz allein.«
    »Allen Widrigkeiten zum Trotz«, sagte Miss Woolf und seufzte.
    Sie konnten den Verlauf der Themse überblicken. Sperrballons tüpfelten den Himmel wie blinde Wale, die im falschen Element schwammen. Sie standen auf dem Dach des Shell-Mex House. Das Gebäude beherbergte jetzt das Ministerium für Beschaffung, für das Mr. Simms arbeitete, und er hatte Ursula und Miss Woolf eingeladen, »sich die Sache von ganz oben anzusehen«.
    »Es ist spektakulär, nicht wahr? Wild und merkwürdig herrlich«, sagte Mr. Simms, als stünden sie auf einem Gipfel der Lakeland Fells

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