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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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einmal Heraklit? Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.«
    »Mehr oder weniger. Eine präzisere Formulierung lautet: ›Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu.‹«
    »Sie sind so eine gescheite junge Frau«, sagte Miss Woolf. »Verschwenden Sie Ihr Leben nicht, ja? Wenn Sie überleben.«
    Ursula hatte Jimmy ein paar Wochen zuvor gesehen. Er hatte zwei Tage Urlaub in London und hatte auf ihrem Sofa in Kensington geschlafen. »Dein kleiner Bruder sieht gut aus«, sagte Millie. Millie neigte dazu, alle Männer auf die eine oder andere Weise für gutaussehend zu halten. Sie schlug einen Abend in der Stadt vor, und Jimmy war sofort dabei. Er sei lange genug eingesperrt gewesen, sagte er. »Es ist Zeit für ein bisschen Spaß.« Mit Jimmy war es immer ein Spaß. Der Abend konnte erst einmal nicht beginnen, weil ein Blindgänger in der Strand lag und sie im Charing Cross Hotel Zuflucht suchen mussten.
    »Was?«, sagte Millie zu Ursula, als sie sich setzten.
    »Was was?«
    »Du hast diesen komischen Ausdruck, den du immer kriegst, wenn du dich an etwas zu erinnern versuchst.«
    »Oder zu vergessen«, sagte Jimmy.
    »Ich habe an gar nichts gedacht«, sagte Ursula. Es war nichts gewesen, nur ein leichtes Flattern und Ziehen einer Erinnerung. Irgendetwas Albernes – das war es immer –, ein Hering in der Speisekammer, ein Zimmer mit grünem Linoleum, ein altmodischer Reifen, der lautlos vorbeirollte. Augenblicke wie Dampfwölkchen, die man nicht festhalten konnte.
    Ursula ging auf die Damentoilette, wo sie ein laut und hemmungslos weinendes Mädchen vorfand. Sie war dick geschminkt, und die Wimperntusche lief ihr wie kleine Rinnsale über die Wangen. Ursula hatte sie zuvor gesehen, wie sie mit einem älteren Mann – »ein ziemlicher Schleimer«, lautete Millies Urteil – etwas trank. Aus der Nähe sah das Mädchen viel jünger aus. Ursula half ihr dabei, die Tränen trockenzutupfen und ihr Make-up zu erneuern, wollte jedoch nicht neugierig sein. »Es ist wegen Nicky«, sagte das Mädchen unaufgefordert, »er ist ein Mistkerl. Dein junger Mann sieht wirklich hübsch aus, habt ihr Lust auf einen Vierer? Ich kann dafür sorgen, dass wir ins Ritz kommen, in die Rivoli Bar, ich kenne den Mann an der Tür.«
    »Also«, sagte Ursula unsicher. »Der junge Mann ist mein Bruder, und ich glaube nicht –«
    Das Mädchen stieß sie ziemlich fest in die Rippen und lachte. »War nur Spaß. Ihr beiden Mädchen wollt ihn für euch haben, was?« Sie bot Ursula eine Zigarette an, die diese ablehnte. Das Mädchen hatte ein goldenes Zigarettenetui, das wertvoll schien. »Ein Geschenk«, sagte sie, da sie Ursulas Interesse bemerkte. Sie ließ es zuschnappen und hielt es ihr hin. Auf die Vorderseite war ein schönes Schlachtschiff eingraviert, darunter stand das Wort »Jütland«. Sie wusste, dass sie, würde sie es wieder öffnen, auf der Innenseite des Deckels die ineinander verwobenen Initialen »A« und »C« finden würde, »A« für »Alexander« und »C« für »Crighton«. Instinktiv streckte Ursula die Hand danach aus, doch das Mädchen zog das Etui zurück und sagte: »Ich muss gehen. Alles wieder in Ordnung. Du bist nett«, fügte sie hinzu, als hätte sie Zweifel an Ursulas Charakter gehegt. Sie hielt ihr die Hand hin. »Ich heiße übrigens Renee, falls wir uns noch einmal über den Weg laufen, obwohl ich bezweifle, dass wir die gleichen endroits frequentieren, wie es so schön heißt.« Ihre französische Aussprache war astrein, wie seltsam, dachte Ursula. Sie nahm die Hand – sie war hart und warm, als hätte das Mädchen leichtes Fieber – und sagte: »Sehr erfreut, ich bin Ursula.«
    Das Mädchen – Renee – schaute noch einmal zufrieden in den Spiegel, sagte Au revoir und ging.
    Als Ursula ins Café zurückkehrte, ignorierte Renee sie vollkommen. »Was für ein merkwürdiges Mädchen«, sagte sie zu Millie.
    »Sie hat mir die ganze Zeit schöne Augen gemacht«, sagte Jimmy.
    »Da ist sie aber auf dem falschen Boot, mein Lieber, nicht wahr?«, sagte Millie und klimperte auf lächerlich theatralische Weise mit den Wimpern.
    »Dampfer«, sagte Ursula. »Sie ist auf dem falschen Dampfer .«

    Sie becherten als fröhliches Trio in allen möglichen sonderbaren Kneipen, die Jimmy kannte. Sogar Millie, ein erfahrener Stammgast in den Nachtclubs, war überrascht über manche Orte, die sie aufsuchten.
    »Donnerwetter«, sagte Millie, als sie aus einem Club in der Orange Street

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