Die Unvollendete: Roman (German Edition)
wusste.
»Jimmy ist Jimmy«, sagte sie.
In der letzten Woche war sie aus der Mittagspause in ihr Büro zurückgekehrt und hatte eine Ausgabe der Times auf ihrem Schreibtisch vorgefunden. Sie war ordentlich gefaltet, so dass nur die Nachrufe zu sehen waren. Zu Crightons gehörte ein Foto von ihm in Uniform, aufgenommen, bevor sie ihn kennengelernt hatte. Ihr war entfallen, wie gut er ausgesehen hatte. Es war eine große Sache, Jütland wurde selbstverständlich erwähnt. Sie erfuhr, dass seine Frau Moira vor ihm »verschieden« war, dass er mehrfacher Großvater und ein begeisterter Golfer gewesen war. Er hatte Golf nie gemocht, sie fragte sich, wann er konvertiert war. Und wer um alles in der Welt hatte die Times auf ihren Schreibtisch gelegt? Wer hatte nach all den Jahren daran gedacht, ihr die Nachricht zukommen zu lassen? Sie hatte keine Ahnung und nahm an, dass sie es nie erfahren würde. Während ihrer Affäre hatte er eine Zeitlang Zettel auf ihren Schreibtisch legen lassen, ziemlich eindeutige billets-doux, die wie durch Zauberhand auftauchten. Vielleicht hatte dieselbe unsichtbare Hand diese vielen Jahre später die Times gebracht.
»Der Mann von der Admiralität ist gestorben«, sagte sie zu Pamela. »Natürlich stirbt jeder irgendwann.«
»Ja, da ist was Wahres dran«, sagte Pamela und lachte.
»Nein, ich meine, alle, die wir kennen, werden eines Tages tot sein. Ich auch.«
»Immer noch was Wahres dran.«
»Amor fati«, sagte Ursula. »Nietzsche hat viel darüber geschrieben. Ich habe es erst nicht verstanden und dachte, es hieß ›amorph Vati‹. Weißt du noch, dass ich zu einem Psychiater gegangen bin? Dr. Kellet? Im Grunde seines Herzens war er Philosoph.«
»Liebe zum Schicksal?«
»Es bedeutet, es anzunehmen. Was immer dir zustößt, akzeptiere es, das Gute wie das Schlechte gleichermaßen. Der Tod ist nur eine weitere Sache, dir wir annehmen müssen.«
»Klingt nach Buddhismus. Habe ich dir erzählt, dass Chris nach Indien reisen will, in eine Art Kloster, Retreat nennt er es. Nach Oxford fällt es ihm schwer, sich für irgendwas zu entscheiden. Er ist offenbar ein ›Hippie‹.« Ursula war der Ansicht, dass Pamela ihrem dritten Sohn gegenüber sehr nachsichtig war. Sie selbst fand Christopher etwas unheimlich. Sie suchte nach einem anderen, großzügigeren Wort, aber es fiel ihr keins ein. Er gehörte zu den Leuten, die einen mit einem bedeutsamen Lächeln im Gesicht anstarrten, als wären sie irgendwie intellektuell und spirituell überlegen, obwohl sie tatsächlich nur sozial gestört waren.
Vom Duft der Lilien, der angenehm gewesen war, als sie sie ins Wasser gestellt hatte, wurde ihr langsam übel. Im Zimmer war es stickig. Sie sollte ein Fenster öffnen. Sie stand auf, um den Teller in die Küche zu tragen, und augenblicklich spürte sie einen stechenden Schmerz in der rechten Schläfe. Sie musste sich wieder setzen und warten, bis er vorbei war. Seit Wochen passierte das immer wieder. Ein akuter Schmerz und danach ein dumpfer Brummschädel. Oder manchmal auch schreckliche, pochende Kopfschmerzen. Sie hatte an hohen Blutdruck gedacht, aber nach zahlreichen Tests im Krankenhaus hieß es Neuralgie, »wahrscheinlich«. Sie bekam starke Schmerztabletten und die Vermutung mit auf den Weg, dass sie sich besser fühlen würde, sobald sie pensioniert wäre. »Dann werden Sie Zeit haben, sich zu entspannen, es locker anzugehen«, hatte der Arzt in dem besonderen Tonfall gesagt, den er für ältere Menschen reservierte.
Der Schmerz ließ nach, und sie stand vorsichtig auf.
Was würde sie mit ihrer Zeit anfangen? Sie dachte daran, aufs Land zu ziehen, in ein kleines Häuschen, am Dorfleben teilzunehmen, vielleicht irgendwo in der Nähe von Pamela. Sie stellte sich Agatha Christies St. Mary Mead vor oder Miss Read’s Fairacre. Vielleicht sollte sie einen Roman schreiben? Das würde jedenfalls die Zeit füllen. Und einen Hund, es war an der Zeit, sich wieder einen Hund zuzulegen. Pamela hatte Golden Retrievers, einen nach dem anderen und für Ursula ununterscheidbar.
Sie spülte das wenige Geschirr. Vielleicht sollte sie sich eine Ovomaltine machen, früh ins Bett gehen und im Bett lesen. Sie las Greenes Die Stunde der Komödianten. Möglicherweise musste sie sich wirklich öfter ausruhen, aber in letzter Zeit hatte sie Angst vor dem Schlaf. Sie hatte so lebhafte Träume, dass es ihr bisweilen schwerfiel, sie nicht für real zu halten. Mehrere Male hatte sie geglaubt, dass etwas
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