Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Haarsträubendes wirklich passiert war, was ganz offensichtlich und logischerweise nicht der Fall sein konnte. Und sie fiel. Sie fiel in ihren Träumen, stürzte eine Treppe hinunter oder von einer Klippe, es war ein höchst unangenehmes Gefühl. War es das erste Zeichen von Demenz? Der Anfang vom Ende? Das Ende vom Anfang?
Durch ihr Schlafzimmerfenster sah sie einen dicken Mond aufgehen. Keats Mondenkönigin. Zärtlich ist die Nacht. Der Schmerz in ihrem Kopf kehrte zurück. Sie holte ein Glas Wasser und schluckte zwei Schmerztabletten.
»Aber wenn Hitler getötet worden wäre, bevor er Reichskanzler wurde, dann gäbe es diesen Konflikt zwischen den Arabern und den Israelis nicht, oder?« Der Sechs-Tage-Krieg, wie er genannt wurde, war vorbei, die Israelis hatten gewonnen. »Ich verstehe sehr gut, dass die Juden einen eigenen Staat wollten und ihn jetzt mit aller Macht verteidigen«, fuhr Ursula fort, »und ich habe immer mit der zionistischen Sache sympathisiert, auch schon vor dem Krieg, aber andererseits verstehe ich auch, warum die arabischen Staaten so gekränkt sind. Doch wenn Hitler nicht den Holocaust –«
»Weil er tot gewesen wäre?«
»Ja, weil er tot gewesen wäre. Dann hätte es kaum Unterstützung für einen eigenen jüdischen Staat gegeben …«
»Bei Geschichte geht es immer um ›was, wenn‹«, sagte Nigel. Pamelas ältester Sohn, ihr Lieblingsneffe, lehrte Geschichte in Brasenose, Hughs altem College. Sie hatte ihn zum Mittagessen bei Fortnum eingeladen.
»Es ist angenehm, ein intelligentes Gespräch zu führen«, sagte sie. »Ich habe mit Millie Shawcross Urlaub in Südfrankreich gemacht, kennst du sie? Nein? Sie heißt nicht mehr so und hat mehrere Ehemänner hinter sich, einer wohlhabender als der andere.«
Millie, die Kriegsbraut, die in eine »Cowboy«-Familie eingeheiratet hatte, war so bald wie möglich schnurstracks aus Amerika zurückgekehrt. Danach »stand sie wieder auf der Bühne« und hatte mehrere katastrophale Affären, bevor sie auf Gold stieß in Gestalt des Sprösslings einer Öldynastie im Steuerexil.
»Sie lebt in Monaco. Es ist unglaublich klein, ich hatte keine Ahnung. Und sie ist jetzt ziemlich dämlich. Ich schwafle, stimmt’s?«
»Überhaupt nicht. Soll ich dir Wasser eingießen?«
»Leute, die allein leben, neigen zum Schwafeln. Wir leben ohne Beschränkungen, zumindest ohne verbale.«
Nigel lächelte. Er trug eine strenge Brille und hatte Harolds hübsches Lächeln. Als er die Brille abnahm, um sie mit der Serviette zu putzen, sah er sehr jung aus.
»Du siehst so jung aus«, sagte Ursula. »Aber du bist natürlich auch jung. Klinge ich wie eine schrullige alte Tante?«
»Um Gottes willen, nein«, sagte er. »Du bist die schlauste Person, die ich kenne.«
Sie butterte ein Brötchen und freute sich über sein Kompliment. »Jemand hat mal gesagt, dass späte Einsicht etwas Wunderbares ist, ohne sie gäbe es keine Geschichte.«
»Da hat er wahrscheinlich recht.«
»Aber überleg doch mal, wie anders alles wäre«, beharrte Ursula. »Es gäbe wahrscheinlich keinen Eisernen Vorhang, und Russland hätte Osteuropa nicht schlucken können.«
»Schlucken?«
»Na ja, es war doch reine Gier. Und die Amerikaner hätten sich ohne Krieg vermutlich nicht so schnell von der Wirtschaftskrise erholt und infolgedessen keinen so großen Einfluss auf die Nachkriegswelt ausgeübt –«
»Und Millionen Menschen wären nicht umgekommen.«
»Ja, natürlich. Und das kulturelle Gesicht Europas wäre ein ganz anderes, weil die Juden noch da wären. Und denk nur an all die Vertriebenen, die von einem Land ins andere flüchten mussten. Und Großbritannien wäre noch ein Weltreich, oder zumindest hätten wir diesen Status nicht so überstürzt verloren – damit will ich selbstverständlich nicht sagen, dass der Imperialismus etwas Gutes ist. Und wir wären nicht bankrottgegangen und hätten nicht so lange gebraucht, um uns wieder zu erholen, finanziell und psychologisch. Und es gäbe keine europäische Wirtschaftsgemeinschaft –«
»Die uns nicht reinlässt.«
»Überleg nur, wie stark Europa wäre! Aber vielleicht wären Göring oder Himmler eingesprungen. Und alles wäre genauso gekommen.«
»Vielleicht. Aber die Nazis waren nur eine marginale Partei, bis sie die Macht übernommen haben. Sie waren alle fanatische Psychopathen, aber keiner hatte Hitlers Charisma.«
»Ja, ich weiß«, sagte Ursula. »Er war ungewöhnlich charismatisch. Die Leuten reden über Charisma,
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