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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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als wäre es etwas Gutes, aber in Wirklichkeit ist es nur eine Art Zauber – im buchstäblichen Sinn, jemand, der verzaubert. Ich glaube, es waren seine Augen, er hatte die unwiderstehlichsten Augen. Wenn man in seine Augen geschaut hat, dann hat man sich in Gefahr gebracht, zu glauben –«
    »Du hast ihn getroffen? «, fragte Nigel überrascht.
    »Nicht wirklich«, sagte Ursula. »Möchtest du ein Dessert, Lieber?«

    Es war Juli, und es war heiß wie im Hades, als sie die Piccadilly von Fortnum zurückging. Sogar die Farben wirkten heiß. Dieser Tage war alles bunt – bunte junge Dinge. Im Büro arbeiteten Mädchen mit Röcken so kurz wie Schabraken. Die jungen Leute waren heutzutage so begeistert von sich selbst, als hätten sie die Zukunft erfunden. Es war die Generation, für die der Krieg gekämpft worden war, und jetzt benutzten sie das Wort »Frieden« so unbedacht, als wäre es ein Schlagwort aus der Werbung. Sie hatten keinen Krieg erlebt (»Und das ist nur gut so«, hörte sie Sylvie sagen, »egal wie unzulänglich sie auch sind«). Ihnen waren, mit Churchills Worten, die Eigentumsurkunden der Freiheit überreicht worden. Was sie jetzt damit taten, war vermutlich ihre Sache. (Wie kleinkariert Ursula klang, sie war zu der Person geworden, die sie nie hatte sein wollen.)

    Sie wollte durch die Parks gehen, überquerte die Straße und betrat den Green Park. Sie ging sonntags immer in den Parks spazieren, aber jetzt, da sie im Ruhestand war, war vermutlich jeder Tag ein Sonntag. Sie schlenderte am Palast vorbei und in den Hyde Park, kaufte ein Eis an einem Kiosk neben dem Serpentine und beschloss, einen Liegestuhl zu mieten. Sie war schrecklich müde, das Mittagessen hatte sie erschöpft.
    Sie musste eingedöst sein – das viele Essen. Tretboote fuhren über das Wasser, die Leute traten in die Pedale, lachten, scherzten. Ach, verdammt, dachte sie, sie spürte die Kopfschmerzen kommen, und sie hatte keine Schmerztabletten dabei. Vielleicht könnte sie auf dem Carriage Drive ein Taxi nehmen, zu Fuß würde sie es nicht nach Hause schaffen, nicht in dieser Hitze, nicht mit diesen Schmerzen. Doch dann wurden die Schmerzen untypischerweise schwächer statt stärker. Sie schloss die Augen wieder, die Sonne strahlte noch heiß und hell. Sie fühlte sich herrlich träge.
    Es war komisch, umgeben von Menschen zu schlafen. Eigentlich hätte sie sich verletzlich fühlen müssen, doch stattdessen empfand sie es als tröstlich. Wie hatte Tennessee Williams es ausgedrückt – die Freundlichkeit von Fremden? Millies Schwanengesang auf der Bühne, der letzte Atemzug des sterbenden Schwans, war es gewesen, 1955 Blanche DuBois in Bath zu spielen.
    Sie ließ sich von den Geräuschen im Park einschläfern. Im Leben ging es nicht um das Werden. Es ging um das Sein. Dr. Kellet hätte diesen Gedanken gutgeheißen. Und alles war ephemer, und doch war alles ewig, dachte sie schläfrig. Irgendwo bellte ein Hund. Ein Kind weinte. Es war ihr Kind, sie spürte sein zartes Gewicht in den Armen. Es war ein wunderschönes Gefühl. Sie träumte. Sie stand auf einer Wiese – Flachs und Rittersporn, Butterblumen, Klatschmohn, rote Waldnelken und Margeriten – und nicht zeitgemäße Schneeglöckchen. Die Verrücktheiten der Traumwelt, dachte sie und hörte, wie Sylvies kleine Reiseuhr Mitternacht schlug. Jemand sang, ein Kind, eine heisere kleine Stimme, die die Melodie halten konnte, Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm. Muskatnuss, dachte sie. Seit einer Ewigkeit versuchte sie, sich an dieses deutsche Wort zu erinnern, und jetzt war es ihr plötzlich eingefallen.
    Jetzt war sie in einem Garten. Sie hörte das leise Klacken von Tassen auf Untertassen, das Krächzen und Klappern eines Rasenmähers und roch den pfeffrig süßen Duft von Nelken. Ein Mann hob sie hoch und warf sie in die Luft, und Zuckerstücke flogen durch den Garten. Es war eine andere Welt, und doch war es diese. Sie gestattete sich ein leises Kichern, obwohl sie der Meinung war, dass Leute, die in der Öffentlichkeit vor sich hin lachten, mit großer Wahrscheinlichkeit verrückt waren.
    Trotz der Sommerhitze begann es zu schneien, was in Träumen schließlich nichts Außergewöhnliches war. Der Schnee bedeckte ihr Gesicht, was bei diesem Wetter angenehm und kühl war. Und dann fiel sie, sie stürzte in die Dunkelheit, schwarz und tief –
    Und dann war da wieder Schnee – weiß und angenehm, das Licht wie ein scharfes Schwert, das die schweren

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