Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
Vom Netzwerk:
fahren würde, vorzugsweise mit Molly Lester, und dass sich beide mit der Spanischen Grippe anstecken und sterben würden.

    Molly Lester, die mit Clarence nie ein Wort außer einem unschuldigen »Morgen, Sir, was darf es sein?« gesprochen hatte, ging zu einem kleinen Straßenfest im Dorf, aber Clarence fuhr mit zwei Freunden nach London und starb in der Tat.
    »Aber zumindest ist niemand die Treppe hinuntergestoßen worden«, sagte Ursula.
    »Was um Himmels willen meinst du denn damit?«, fragte Sylvie.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Ursula. Sie wusste es wirklich nicht.
    Sie war von sich selbst verwirrt. Sie träumte ständig, dass sie flog und fiel. Manchmal stand sie auf einem Stuhl am Schlafzimmerfenster und verspürte den Drang, hinauszuklettern und sich hinunterzustürzen. Sie würde nicht wie ein überreifer Apfel auf dem Boden aufprallen und platzen, sondern aufgefangen werden, davon war sie überzeugt. (Von wem oder was?, fragte sie sich.) Sie sah davon ab, diese Theorie zu überprüfen, im Gegensatz zu Pamelas kleiner armer Figur mit Krinoline, die eines Winterabends von einem boshaft gelangweilten Maurice aus ebendiesem Schlafzimmerfenster geworfen wurde.
    Als sie hörte, wie er sich im Flur näherte – laut angekündigt von indianischem Kriegsgebrüll –, schob Ursula hastig ihren Liebling, die Strickliesel Königin Solange, unter das Kopfkissen, wo ihr nichts geschah, während die unglückselige Krinolinendame aus dem Fenster flog und auf den Dachschindeln zerbrach. »Ich wollte nur wissen, was passiert«, jammerte er Sylvie danach vor. »Jetzt weißt du es«, sagte sie. Sie empfand Pamelas hysterische Reaktion auf den Vorfall mehr als ein bisschen anstrengend. »Wir befinden uns mitten im Krieg«, sagte sie zu ihr. »Es passieren schlimmere Dinge.« Nicht für Pamela.
    Wenn Ursula Maurice die kleine Strickliesel aus unzerbrechlichem Holz hätte nehmen lassen, wäre die Krinolinendame gerettet gewesen.
    Bosun, der bald an Staupe sterben würde, drängte sich abends ins Schlafzimmer und legte aus Mitgefühl eine schwere Pfote auf Pamelas Decke, bevor er auf dem Teppich zwischen ihren Betten ächzend einschlief.
    Am nächsten Tag machte sich Sylvie Vorwürfe, weil sie ihre Kinder so herzlos behandelt hatte, und holte ein weiteres Kätzchen von Ettringham Hall, wo es ständig Kätzchen im Überfluss gab. In der Nachbarschaft kursierte eine Art Kätzchen-Währung, sie wurde von Eltern für alle möglichen Arten emotionaler Tiefschläge oder Erfolge ausgegeben – für eine verlorene Puppe, eine bestandene Prüfung.
    Obwohl Bosun sein Bestes tat, um das Kätzchen zu behüten, hatten sie es erst eine Woche, als Maurice während eines lebhaften Soldatenspiels mit den Cole-Jungen darauf trat. Sylvie hob rasch den kleinen Körper auf und gab ihn Bridget, die ihn wegbringen sollte, damit sein Todeskampf ohne Zeugen verlief.
    »Es war ein Versehen!«, schrie Maurice. »Ich hab nicht gewusst, dass das doofe Ding da war!«
    Sylvie schlug ihn ins Gesicht, und er begann zu weinen. Es war schrecklich, ihn so aufgebracht zu sehen, es war wirklich ein Versehen gewesen, und Ursula versuchte, ihn zu trösten, woraufhin er noch wütender wurde, und Pamela hatte alle zivilisatorische Zurückhaltung abgelegt und versuchte, Maurice das Haar vom Kopf zu reißen. Die Cole-Jungen hatten sich längst in ihr eigenes Haus zurückgezogen, wo emotionale Ruhe die allgemeine Devise des Tages war.
    Manchmal war es schwieriger, die Vergangenheit zu ändern als die Zukunft.
    *
    »Kopfschmerzen«, sagte Sylvie.
    »Ich bin Psychiater«, sagte Dr. Kellet zu ihr. »Kein Neurologe.«
    »Und Träume und Albträume«, lockte ihn Sylvie.
    Das Zimmer hatte etwas Tröstliches, dachte Ursula. Die Eichenvertäfelung, das prasselnde Feuer, der dicke, rot und blau gemusterte Teppich, die Ledersessel, sogar die fremdländische Teeurne – alles kam ihr vertraut vor.
    »Träume?«, ließ Dr. Kellet sich ordnungsgemäß verlocken.
    »Ja«, sagte Sylvie. »Und schlafwandeln.«
    »Wirklich?«, sagte Ursula erschrocken.
    »Und die ganze Zeit hat sie diese Déjà-vu -Erlebnisse«, sagte Sylvie leicht angewidert.
    »Wirklich?«, sagte Dr. Kellet und griff nach seiner schönen Meerschaumpfeife, klopfte die Asche auf das Schutzblech des Ofens. Es war der Pfeifenkopf in Form eines Türkenkopfs, der ihr vertraut war wie ein altes Haustier.
    »Oh«, sagte Ursula. »Ich war schon mal hier!«
    »Sehen Sie!«, sagte Sylvie triumphierend.
    »Hm …«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher