Die Unvollendete: Roman (German Edition)
der Gefahr durch die Wellen gepaddelt, und hätte Roland zurückgebracht. In seiner Abwesenheit versuchte Archibald Winton, ein Hobbymaler aus Birmingham, wie die Lokalzeitung ihn nannte, das Kind (Roland Todd, vier Jahre alt, in Ferien mit seiner Familie) zu retten. Er warf den Pinsel weg, schwamm hinaus und zog den Jungen aus dem Wasser, doch leider zu spät. Der Artikel wurde sorgfältig ausgeschnitten und aufbewahrt, um in Birmingham zur Kenntnis gebracht zu werden. In einer zehn Zentimeter langen Spalte war Mr. Winton sowohl zu einem Helden als auch zu einem Künstler geworden. Er stellte sich vor, wie er bescheiden »Nicht der Rede wert« sagte, und es war – natürlich – nicht der Rede wert, denn er hatte niemanden gerettet.
Ursula sah zu, wie Mr. Winton durch die Wellen zum Strand watete, Rolands schlaffen kleinen Körper in den Armen. Pamela und Ursula hatten geglaubt, dass sich die Flut zurückzog, doch stattdessen stieg sie, füllte bereits den Burggraben und leckte an dem Sandhaufen, der bald für immer verschwunden wäre. Ein Reifen rollte vorbei, angetrieben vom Wind. Ursula starrte hinaus aufs Meer, während hinter ihr auf dem Strand mehrere fremde Personen versuchten, Roland wiederzubeleben. Pamela stellte sich neben sie, und sie fassten sich an den Händen. Die Wellen wurden länger und spülten über ihre Füße. Wenn sie nur nicht unbedingt die Sandburg hätten bauen wollen, dachte Ursula. Und es hatte den Anschein einer so guten Idee erweckt.
*
»Tut mir leid wegen Ihres Jungen, Mrs. Todd, Ma’am«, murmelte George Glover. Er tippte sich an die unsichtbare Kappe auf seinem Kopf. Sylvie hatte eine Expedition angeordnet, um das Einbringen der Ernte zu beobachten. Sie mussten sich aus ihrer quälenden Trauer reißen, meinte sie. Nach Rolands Tod waren sie den Sommer über alle natürlich niedergeschlagen. Roland schien in seiner Abwesenheit größer als zu seinen Lebzeiten.
» Dein Junge?«, sagte Izzie leise, als George Glover an die Arbeit zurückgekehrt war. Sie war gerade noch rechtzeitig zu Rolands Beerdigung gekommen, in schicker schwarzer Trauerkleidung, und hatte vor Rolands kleinem Sarg »Mein Junge, mein Junge« geschluchzt.
»Er war mein Junge«, sagte Sylvie vehement, »trau dich bloß nicht zu behaupten, er wäre dein Junge gewesen.« Doch sie wusste – und fühlte sich deswegen schuldig –, dass sie um Roland weniger trauerte, als sie es für eins ihrer eigenen Kinder getan hätte. Aber das war doch bestimmt normal? Jetzt, da er tot war, beanspruchte ihn jeder für sich. (Auch Mrs. Glover und Bridget hätten ein kleines Anrecht auf ihn angemeldet, wenn ihnen jemand zugehört hätte.)
Hugh hatte der Verlust »des kleinen Kerlchens« sehr getroffen, doch er wusste, dass er zum Wohl seiner Familie weitermachen musste wie bisher.
Zu Sylvies Ärger blieb Izzie eine Weile. Sie war zwanzig Jahre alt, saß zu Hause fest und wartete auf einen bislang unbekannten Mann, der sie Adelaides »Klauen« entreißen würde. Rolands Name durfte in Hampstead nicht erwähnt werden, und Adelaide hatte seinen Tod zu einem »Segen« erklärt. Hugh bedauerte seine Schwester, während Sylvie sich in der Gegend nach einem geeigneten Landbesitzer umschaute, der über genug schafsköpfige Geduld verfügte, um Izzie zu ertragen.
Sie schleppten sich bei drückender Hitze über Felder, kletterten über Zaunübertritte, wateten durch Bäche. Sylvie trug das Baby in einem um den Oberkörper geschlungenen Schultertuch. Das Baby war eine schwere Last, wenn vielleicht auch nicht ganz so schwer wie der Picknickkorb, den Bridget schleppen musste. Bosun ging pflichtbewusst neben ihnen, er war kein Hund, der vorauslief, sondern neigte eher dazu, den Schluss zu bilden. Er wunderte sich noch immer über Rolands Verschwinden und bemühte sich, nicht noch jemanden zu verlieren. Izzie hing zurück, ihre anfängliche Begeisterung für den ländlichen Ausflug war längst verflogen. Bosun tat sein Bestes, um sie anzutreiben.
Es war ein schlechtgelaunter Treck, das Picknick verlief nicht viel besser, da Bridget vergessen hatte, die Sandwiches einzupacken. »Wie um alles in der Welt hast du das geschafft?«, fragte Sylvie verdrossen, und infolgedessen mussten sie die Schweinefleischpastete essen, die Mrs. Glover George zugedacht hatte. (»Sagt es ihr um Himmels willen nicht«, sagte Sylvie.) Pamela hatte sich an einem Brombeerstrauch gekratzt, Ursula war in Brennnesseln gefallen. Sogar der normalerweise
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