Die Unvollendete: Roman (German Edition)
und schlug erneut darauf ein. »Die Russen sind genauso schlimm.« Ursula fragte sich, ob Mrs. Glover jemals einen Ausländer kennengelernt hatte.
»Also, in Manchester leben viele Juden«, sagte Mrs. Glover.
»Haben Sie welche getroffen?«
»Getroffen? Wozu sollte ich mich mit ihnen treffen?«
»Juden sind aber nicht notwendigerweise Ausländer, oder? Die Coles von nebenan sind Juden.«
»Sei nicht albern«, sagte Mrs. Glover, »sie sind so englisch wie du und ich.« Mrs. Glover mochte die Cole-Jungen wegen ihrer ausgezeichneten Manieren. Ursula überlegte, ob sich ein Streit lohnte. Sie nahm noch einen Apfel, und Mrs. Glover schlug weiter auf das Fleisch ein.
Ursula aß den Apfel auf einer Bank in einem abgeschiedenen Winkel des Gartens, eins von Sylvies bevorzugten Verstecken. Die Worte »Kalbskoteletts à la Russe « trieben durch ihr schläfriges Gehirn. Und dann war sie plötzlich auf den Beinen, ihr Herz pochte in ihrer Brust, eine unerwartete, vertraute, aber lange vergessene Angst war ausgelöst worden – doch wovon? Sie passte so überhaupt nicht zu dem friedlichen Garten, der Wärme des Spätnachmittags auf ihrem Gesicht, zu Hattie, die sich träge auf dem sonnigen Weg putzte.
Es gab keine schrecklichen Anzeichen für ein Verhängnis, nichts, was darauf schließen ließ, dass in der Welt nicht alles in Ordnung wäre, dennoch schleuderte Ursula das Kerngehäuse des Apfels ins Gebüsch und rannte aus dem Garten, durch das Tor und auf den Weg, die alten Dämonen schnappten nach ihren Fersen. Hattie hielt in ihrer Toilette inne und betrachtete verächtlich das schwingende Tor.
Vielleicht war es ein Zugunglück, vielleicht müsste sie ihren Unterrock zerreißen wie die Mädchen in Die Eisenbahnkinder, um den Lokomotivführer zu warnen, aber nein, als sie den Bahnhof erreichte, hielt der 17.30-Uhr-Zug nach London in der sicheren Obhut von Fred Smith und seinem Zugführer neben dem Bahnsteig.
»Miss Todd?«, sagte er und tippte sich an den Schirm seiner Eisenbahnerkappe. »Alles in Ordnung? Sie sehen besorgt aus.«
»Alles in Ordnung, Fred, danke der Nachfrage.« Sie befand sich nur in einem Zustand der Todesangst, kein Grund zur Beunruhigung. Fred Smith sah nicht so aus, als hätte er jemals einen Moment der Todesangst erlebt.
Sie ging den Weg entlang, noch immer erfüllt von dieser namenlosen Angst. Auf halber Strecke traf sie auf Nancy Shawcross und sagte: »Hallo, was machst du denn?«, und Nancy erwiderte: »Ach, ich suche nach Sachen für mein Sammelalbum. Ich habe ein paar Eichenblätter und ein paar kleine Eicheln gefunden.«
Die Angst zog sich aus Ursulas Körper zurück, und sie sagte: »Komm, ich begleite dich nach Hause.«
Als sie sich der Kuhweide näherten, kletterte ein Mann über das Gatter mit fünf Querstreben und landete schwerfällig im Wiesenkerbel. Er schaute Ursula an, tippte an seine Kappe und murmelte: »Guten Abend, Miss«, bevor er Richtung Bahnhof weiterging. Weil er humpelte, wirkte er komisch, wie Charlie Chaplin. Vielleicht ein Kriegsveteran, dachte Ursula.
»Wer war das?«, fragte Nancy.
»Keine Ahnung«, sagte Ursula. »Schau, da auf der Straße, ein toter Schwarzer Moderkäfer. Wär der nicht was für dich?«
Morgen wird ein schöner Tag
2. September 1939
M aurice behauptet, dass es in ein paar Monaten vorbei sein wird.« Pamela stellte ihren Teller auf der runden Wölbung ab, die ihr nächstes Baby enthielt. Sie hoffte auf ein Mädchen.
»Du wirst weitermachen, bis du eins kriegst, stimmt’s?«, sagte Ursula.
»Bis zum Jüngsten Gericht«, stimmte Pamela fröhlich zu. »Wir waren also eingeladen, zu meiner großen Überraschung. Mittagessen am Sonntag in Surrey mit allem Drum und Dran. Ihre komischen Kinder, Philip und Hazel –«
»Ich glaube, ich habe sie nur zweimal gesehen.«
»Du hast sie wahrscheinlich öfter gesehen, sie sind dir nur nicht aufgefallen. Maurice hat gesagt, dass er uns eingeladen hat, damit ›die Cousins sich besser kennenlernen können‹, aber meine Jungs waren ganz und gar nicht begeistert. Philip und Hazel haben keine Ahnung, wie man spielt. Und ihre Mutter ist für das Roastbeef und den Apfelkuchen zur Märtyrerin geworden. Edwina macht sich auch für Maurice zur Märtyrerin. Das Märtyrertum passt natürlich zu ihr, sie ist eine so inbrünstige Christin, wenn man bedenkt, dass sie der Kirche von England angehört.«
»Ich möchte definitiv nicht mit Maurice verheiratet sein, ich weiß gar nicht, wie sie das
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