Die Unvollendete: Roman (German Edition)
keine Krankenhausärzte einberufen, oder? Sie werden sie brauchen, wenn wir bombardiert und mit Gas vergiftet werden. Und wir werden bombardiert und mit Gas angegriffen werden, das weißt du doch, oder?«
»Ja, natürlich«, sagte Ursula so beiläufig, als würden sie über das Wetter reden.
»Was für ein fürchterlicher Gedanke.« Pamela seufzte noch einmal, legte die Stricknadeln beiseite und streckte die Arme über den Kopf. »So ein wunderbarer Tag. Kaum zu glauben, dass es wahrscheinlich der letzte normale Tag für lange Zeit ist.«
Ursula hätte am Montag ihren Jahresurlaub antreten sollen. Sie hatte eine Woche geruhsamer Tagesausflüge geplant – Eastbourne und Hastings oder vielleicht sogar Bath oder Winchester –, doch da die Kriegserklärung bevorstand, schien es ihr absurd, auch nur daran zu denken. Angesichts dessen, was die Zukunft bringen mochte, hatte sie die Lust verloren. Den Morgen hatte sie in der Kensington High Street verbracht und Vorräte eingekauft – Batterien für die Taschenlampe, eine neue Wärmflasche, Kerzen, Streichhölzer, ungeheure Mengen schwarzes Papier und Dosen mit Bohnen in Tomatensoße und Kartoffeln, eingeschweißten Kaffee. Auch Kleidung hatte sie gekauft, einen guten Wollrock für acht Pfund, eine grüne Samtjacke für sechs, Strümpfe und ein Paar hübscher brauner Halbschuhe, die aussahen, als würden sie ewig halten. Sie hatte sich gefreut, weil sie einem Nachmittagskleid aus gelbem Crêpe de Chine mit winzigen schwarzen Schwalben darauf widerstanden hatte. »Mein Wintermantel ist erst zwei Jahre alt«, sagte sie zu Pamela, »er wird den Krieg überstehen, was meinst du?«
»Das hoffe ich doch.«
»Es ist alles so grauenvoll.«
»Ich weiß«, sagte Pamela und schnitt mehr Kuchen auf. »Es ist niederträchtig. Es ärgert mich ungemein. Krieg zu führen ist Wahnsinn. Nimm noch Kuchen, solange die Jungs bei Olive sind. Wenn sie zurück sind, werden sie wie die Heuschrecken über alles herfallen. Gott weiß, wie wir mit der Rationierung zurechtkommen werden.«
»Ihr seid auf dem Land – ihr könnt Gemüse anbauen. Hühner halten. Ein Schwein. Ihr werdet nicht hungern.« Ursula wurde elend zumute bei dem Gedanken, dass Pamela die Stadt verlassen wollte.
»Du solltest mitkommen.«
»Ich muss leider bleiben.«
»Ah, gut, da kommt Harold«, sagte Pamela, als Harold mit einem großen Bund Dahlien auftauchte, die in feuchtes Zeitungspapier gewickelt waren. Sie stand halb auf, um ihn zu begrüßen, und er küsste sie auf die Wange und sagte: »Bleib sitzen.« Er küsste auch Ursula und überreichte Pamela die Dahlien.
»Ein Mädchen hat sie an der Straßenecke verkauft, in Whitechapel«, sagte er. »Sehr wie Pygmalion. Sie hat gesagt, dass sie aus dem Schrebergarten ihres Großvaters stammen.« Crighton hatte Ursula einmal Rosen geschenkt, aber sie hatten bald die Köpfe hängen lassen und waren verwelkt. Sie beneidete Pamela um die robusten Schrebergartenblumen.
»Also«, sagte Harold, nachdem er sich eine lauwarme Tasse Tee eingeschenkt hatte, »wir evakuieren bereits die Patienten, denen es gut genug geht, um sie zu verlegen. Sie werden definitiv morgen die Kriegserklärung abgeben. Morgens. Wahrscheinlich damit die Nation in der Kirche kollektiv auf die Knie gehen und um Erlösung beten kann.«
»Ja, Krieg ist immer so christlich, nicht wahr?«, sagte Pamela sarkastisch. »Vor allem wenn man Engländer ist. Ich habe Freunde in Deutschland«, sagte sie zu Ursula. »Gute Menschen.«
»Ich weiß.«
»Sind sie jetzt der Feind?«
»Reg dich nicht auf, Pammy«, sagte Harold. »Warum ist es so still, was hast du mit den Jungs gemacht?«
»Ich habe sie verkauft«, sagte Pamela und wurde wieder munter. »Drei zum Preis von zwei.«
»Du solltest über Nacht bleiben, Ursula«, sagte Harold freundlich. »Du solltest morgen nicht allein sein. Es wird ein schrecklicher Tag werden. Anweisung des Arztes.«
»Danke«, sagte Ursula. »Aber ich habe schon was vor.«
»Gut für dich«, sagte Pamela und griff wieder zum Strickzeug. »Wir dürfen nicht so tun, als sei es das Ende der Welt.«
»Und wenn es das ist?«, sagte Ursula. Jetzt wünschte sie, sie hätte den gelben Crêpe de Chine gekauft.
November 1940
S ie lag auf dem Rücken in einer Wasserlache, eine Tatsache, die sie anfänglich nicht allzu besorgniserregend fand. Das Schlimmste war der widerliche Geruch. Eine Mischung mehrerer Dinge, keins davon angenehm, und Ursula versuchte, sie in ihre einzelnen
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