Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
geliebte und seit langem verschwundeneGesichter und an großartige Länder, die ich gesehen habe, in den Sinn gekommen. Wie soll ich dir’s erklären? Es ist wie eine Sehnsucht nach den schönen Dingen und den Frühlingen, die das Schicksal und das Glück mir zugestanden haben. Carmine hat Glück gehabt und auch im Unglück in vollen Zügen gelebt. Und deshalb hat mich bei dem Wort Ende der Wunsch gepackt, dieses Leben noch einmal zu leben. Und zum Beispiel auch heute nacht – welcher Alte hier in der Gegend oder auf der ganzen Welt hat das Glück, ein so schönes Gewicht wie deines auf sich zu spüren?«
»Hast du keine Angst?«
»Angst wovor, Figghia? Mein Vater ist ruhig gestorben. Auch ihm hat das Schicksal ein erfülltes Leben beschert. Er hat für uns und meine Mutter, die erst vor sechs Jahren im hohen Alter gestorben ist, Häuser und Ländereien angehäuft. Wenn du natürlich, wie mein Vater immer sagte, mit schwachem Geist und Körper geboren wirst und auf die Phantasiegespinste der Priester hereinfällst, dann muß dir der Sensenmann Angst machen. Mein Großvater, mein Vater und ich mußten uns mit den Händen und dem Gewehr Respekt verschaffen, um das zu bekommen, was uns zustand. Oft hat der Sensenmann mich gestreift. Und wie die Flinte oder das Messer nachts pfiff! Aber jetzt bin ich bei dir, und all das kümmert mich nicht.«
»Also glaubst du nicht an Gott?«
»Was hat das mit Gott zu tun?«
Die vom Tod befreite Stimme, einziges Zeichen seiner Verurteilung, weht durch mein Haar und spült mich gegen die Felsen der Gefühle. Um nicht zu ertrinken, klammere ich mich an seinen Hals und schließe seine Lippen mit meinen.
»Nein, Kätzchen, hör auf, sonst bekomme ich wieder Lust, und dann – ich kenne euch Frauen – stoppst du mich mit der Hand. Und obwohl deine Lippen honigsüß sind, will ich doch bis zum Herz in dich eindringen.«
»Und was sollen wir da machen?«
»Carmine kümmert sich darum, morgen sorge ich vor, aber jetzt sei brav. Das ist eine Laune, die Laune einer frechen Göre! Du bist todmüde, und ich muß gehen.«
»Kommst du wieder?«
»Natürlich komme ich wieder. Wenn es im Haus still wird, wie heute nacht, komme ich wieder.«
51
Jede Nacht, wenn es im Haus still wurde, kam Carmine wieder. Wie fand dieser Alte durch den Park bis zum Eingang und dann durch das Labyrinth aus Fluren und Treppen bis in mein Zimmer hinauf?
»Carmine ist an die Dunkelheit gewöhnt und erinnert sich an Tore, Winkel und Büsche, wo Gefahren lauern können.«
»Gibt es Gefahren in diesem Haus? Warum bist du wiedergekommen?«
»Weil ich meine Pfeife vergessen habe.«
»Die gebe ich dir nicht, du brauchst gar nicht danach zu suchen!«
»Und warum, wenn ich fragen darf? Warum willst du sie mir nicht geben?«
»Weil du sie anzünden kannst und ich nicht. Ich habe es versucht und mich dabei verbrannt. Es lief nur eine bittere Flüßigkeit heraus, und es kam kein Rauch wie bei dir.«
»Was soll das überhaupt? Du bist eine Frau, was hast du mit Pfeife und Tabak zu tun?«
»Sehr viel! Ich gebe sie dir nur, wenn du mir zeigst, wie man sie anzündet.«
»Hat man so was schon gehört? Ein Mädchen mit einer Pfeife im Mund!«
»Nur einmal, Carmine, zeig mir, wie das geht!«
»Na gut. Aber nur einmal. Ich kenne dich, du bist stur wie ein Esel, und ohne meine Pfeife kann ich nicht leben! Wenn es nach den Weißkitteln ginge, dürfte ich weder rauchen noch trinken, noch … Aber lassen wir das! Komm, ich zeig’s dir. Figghia, diese Laune will ich befriedigen, aber nicht, daß du zu rauchen anfängst wie ein Junge?«
»Was spricht dagegen?«
»Was spricht dafür? Sag mir das erst einmal!«
»Daß ich ein Junge bin!«
»Das ist wirklich hübsch! Ein Junge bist du?«
»Ja. Halb Junge, halb Mädchen.«
»Und wer hat dir das gesagt?«
»Das habe ich vorausgesehen. In meiner Zukunft habe ich mich schießen, rauchen und laufen sehen wie Carmine als junger Bursche. Weißt du, ich habe dich als jungen Mann gesehen und dann mich in deinem jetzigen Alter und viel älter. Du mußt sterben, aber ich werde dreimal so alt wie du, das hat mir die Zukunft gesagt.«
»Sehr gut, wenn dir das deine Frau Zukunft gesagt hat, bin ich still. Komm her und schau zu, so stopft man sie. Den Tabak locker hinein und dann ganz vorsichtig zerdrücken … genau so. Ich muß wirklich lachen, wenn ich dich mit der Pfeife im Mund sehe! Und jetzt schauen wir mal. Zünde sie an und zieh daran … Paß auf, der Rauch darf nur bis
Weitere Kostenlose Bücher