Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Ich will die Haare dort unten noch einmal sehen. Ich will sehen, ob sie wirklich so dunkel sind, wie sie wirkten, bevor ich zu den Schultern hochgestiegen bin.
»Du kletterst auf mir herum wie eine Katze, Figghia! Deine Haare kitzeln mich. Was suchst du?«
Nach der langen Reise von seinen Schultern bis zu den Knöcheln legte ich den Kopf auf die dunklen, krausen Haare. Ich bin müde, schließe die Augen und spiele wieder mit seinem Leben, das befriedigt beinahe in meine Handfläche paßt.
»Vorher war er richtig groß und jetzt ist er ganz klein. Wie kommt das, Carmine?«
»Geh und frag den uralten, weisen Olivenbaum aus den Zeiten der Sarazenen, der sich mit dieser Sonderbarkeit einen Spaß erlaubt hat. Carmine hat keine Ahnung von der Natur.«
»Nichts. Kein einziges, alle Haare sind dunkel, Carmine. Wie viele Jahre hast du auf dem Buckel, Alter?«
»Ich werde dreiundfünfzig, wenn ich es bis Allerseelen schaffe.«
»Du bist am zweiten November geboren?«
»Genau, Figghia. Meine Mutter hat immer gesagt, daß in jenem Jahr die Toten Carmine als Geschenk gebracht haben. Und wer weiß, warum diese schöne alte Frau lachte und sich über diese Vorstellung amüsierte. Mir hat das anfangs nicht behagt, und lange Zeit habe ich allen außerhalb der Familie erzählt, daß ich am dritten geboren bin. Mit der Zeit war es mir dann egal, und wie meine Mutter lachte ich über Tote und Lebende, Gott und den Teufel!«
Noch nie hatte ich ihn so lange reden gehört. Seine Stimme wiegte mich, die ich sein Leben in den Händen hielt. Ich wollte nicht, daß sie verstummte.
»Wie war deine Mutter, Carmine?«
»Habe ich dir doch gesagt: Schön, groß und stark wie ein Mann. Sie konnte weder lesen noch schreiben. Und wenn einer von uns nicht spurte, gab es Schläge, ohne daß sie auf meinen Vater gewartet hätte wie andere Frauen. Mehr als einmal trug ich ein blaues Auge davon. Und vor meinen Kameraden erzählte ich dann, daß mich einer meiner Brüder verprügelt hätte. Ich konnte doch nicht sagen, daß mich eine Frau zugerichtet hatte wie einen Boxer nach dem Kampf. Und das auch, weil ich Boxer werden wollte.«
»Was wußtest du schon über den Boxkampf?«
»Einer meiner Onkel, ein Boxer aus Amerika mit Geld und vielen Frauen, hatte mir bei seinem letzten Besuch bei uns ein wenig von dieser edlen Kunst beigebracht. Das war mir zur fixen Idee geworden, und ich schaffte es nicht, mich Zahlen und Wörtern zu widmen. Immer wieder bat ich meinen Vater um die Erlaubnis, nach Amerika zu Onkel Antonio gehen und später auch Boxer werden zu dürfen. Du mußt wissen, daß Onkel Antonio keine Kinder hatte und meinen Vater oft darum bat, mich zu ihm zu schicken.«
»Und dein Vater?«
»Der antwortete nicht, sondern sagte nur: ›Bitte deine Mutter um Erlaubnis.‹«
»Und sie?«
»Ohne einen Ton zu sagen, ging sie mit den Fäusten auf mich los, und ich respektierte das und gab einige Monate lang Ruhe.«
»Und dann?«
»Dann packte mich wieder die Leidenschaft für die Boxhandschuhe. Wenn ich das Interesse an den Feldern verlor, ging ich zu meinem Vater, der mich zu meiner Mutter schickte, und ihre Schläge trieben mir die Träumereien aus.«
»Wie alt warst du damals?«
»Na ja, vierzehn oder fünfzehn Jahre.«
»Da hast du dich noch schlagen lassen?«
»Ich hab dir doch gesagt, daß ich Respekt vor ihr hatte. Außerdem hat sie für uns gewaschen und gekocht und dabei immer gelacht und gesungen. Und ich schwöre dir, daß ich nach ihrem Tod nie wieder ein so gutes maccu gegessen habe.«
Jetzt schweigt er. In der Stille zeichnet sein ruhiger Atem sanft gewellte Sanddünen vor mein inneres Auge. Vorsichtig lege ich das Ohr auf seine Brust, dorthin, wo er mir unter dem neidischen Blick des Mondes mit geschlossener Faust die Stelle gezeigt hat, an der dieser glatzköpfige Alte seinen Samen ausgesät hat. Aber dem langsamen Schlag seines Herzens ist nichts anzumerken, kein Schrei, keine Klage. Der Schleier aus Schweigen wird schwer, aber ich will nicht schlafen.
»Wie kommt es, Carmine, daß du jetzt redest? Früher hast du immer geschwiegen.«
»Stört dich das, Picciridda? Wenn es dich stört, bin ich still.«
»Nein, im Gegenteil, ich höre deine Stimme gern. Aber wie kommt das?«
»Wer weiß, Picciridda! Oder vielleicht weiß ich es doch. Siehst du, Figghia, als die mir unten in Catania gesagt haben, daß ich noch drei oder vier Monate zu leben habe, sind mir Erinnerungen an all die schönen und schlimmen Dinge, an
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