Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
männlichen Wahn. Aber für uns? … Prando ist eingeschlafen. Er will immer hier bei mir sein! Nicht, daß das Fräulein Elena beleidigt ist? Das täte mir leid. Ich will sie nicht verärgern. Sie weiß so viel! Und sie hat meinem ’Ntoni versprochen, ihn wie Prando zu unterrichten, der noch klein ist, aber schon spricht wie ein Großer. Ist Elena auch sicher nicht beleidigt?«
56
Draußen am Tor bellen die Hunde – das kann nicht Mattia sein. Selassié und Lupo kennen seinen Geruch. Vielleicht hat der Vollmond, der wie besessen über denBaumwipfeln tanzt, die Hunde geweckt? Hinter dem Zaun tragen zwei Männer einen Sack durch die Dunkelheit.
Nunzio: »Was ist hier los? Fürstin, bleibt zurück! Wer seid Ihr?«
Pasquale: »Beruhige die Hunde, Nunzio, ich bin’s, Pasquale!«
Sie ziehen einen Sack hinter sich her, ein leeres Kleid oder eine Holzpuppe? Ich wage weder hinzuschauen noch zu fragen. Ich folge nur der Spur der Füße, verworrene Zeichen auf dem Rasen. Ich will diese schwarzen Schuhe nicht wiedererkennen und gehe vor.
Pasquale: »Schnell, Nunzio, lauf zum Arzt! Tragen wir ihn hoch in Beatrices Zimmer.«
Stella mit einem schwarzen Schal über dem Nachthemd und Elena in ihrem hellen Flanellmorgenrock schauen uns stumm an. Vor der untersten Stufe sagt Pasquale:
»Vorsichtig, Jose, greif ihm unter die Arme, damit ich ihn hochnehmen kann … Ja, genau so! Halt den Kopf fest, er darf nicht erschüttert werden. Ja – so, ganz vorsichtig.«
Ich will ihn nicht sehen, aber auf der Treppe gibt es keine Bäume, die den Mond verdecken, und ich muß das blutüberströmte, geschwollene Gesicht von Carlo, der mich mit glänzenden Augen anstarrt und zu lächeln scheint, einfach anschauen. Er lächelt jetzt wirklich auf Beatrices rosafarbenem Kopfkissen: himmelblaue oder zartgrüne Decken und seidene Kopfkissen, die gleichen wie in ihrem Mädchenzimmer auf Carmelo. Auch hier muß ihr Zimmer unverändert bleiben. Die Tradition leichter, hartnäckiger Spitze breitet sich vor meinen Augen aus. Ich hätte Cavallinas Bedingungen nichtakzeptieren dürfen. Um dieses bonbonfarbene, übelkeitserregende Rosa nicht sehen zu müssen, schließe ich die Augen.
Der Arzt geht im Zimmer hin und her. Er schwitzt, nimmt in regelmäßigen Abständen die Brille ab und putzt sie mit einem weißen Taschentuch, das vielleicht aus Leinen ist. Wie heißt er? Ach ja, Licata: Genosse Antonio Licata aus Messina, deshalb duzt er mich … Worauf warten wir? Jetzt spricht Carlo. Einen Schritt, nur einen Schritt – er muß atmen können –, gehen wir auf das Bett zu. Ich muß ihn anschauen. Da ist Elena. Wie hat sie sich so schnell angezogen? Nur sie hat daran gedacht, vorsichtig die schwarze Mähne aus Carlos Stirn zu streichen. Sein inzwischen von Blut und Erde gesäubertes Gesicht ist beinahe unverletzt. Der Arzt – wie hieß er noch – setzt die Brille wieder auf und flüstert mir zu: »Ich verstehe deine Sorge, aber siehst du, daß ich recht hatte? Keine Gehirnerschütterung. Hörst du? Er spricht, und sein Blick ist klar.«
Ich kann ihm einfach nicht glauben und muß Carlo zuhören.
Carlo: »Danke, Elena, ich muß mir irgendwann in den nächsten Tagen die Haare schneiden lassen. Jeden Morgen denke ich daran, aber ich muß zugeben: Ich hege eine tiefe Abneigung gegen den Barbier … Ihr seid ja alle da! Habe ich geschlafen? Draußen ist es hell.«
Licata: »Du mußt ruhig liegenbleiben, beweg dich nicht, Carlo.«
Carlo: »Schon verstanden. Aber daraus, daß ich euch wiedererkenne, schließe ich, daß die Herren meinen Kopf verschont haben.«
Licata: »Still, Carlo, du darfst dich nicht anstrengen.«
Carlo: »Ach ja, richtig! Ich mochte schon immer lieber Reden als Süßigkeiten!«
Licata: »Ja, ja, aber jetzt müssen alle gehen!«
Carlo: »Auch Elena?«
Licata: »Nein, sie bleibt hier. Bei ihr weiß ich, daß sie darauf achtet, daß du dich weder bewegst noch den Mund aufmachst. Kommt, Leute, gehen wir.«
Carlo: »Die anderen kannst du mitnehmen, aber laß mir wenigstens Modesta.«
Pasquale: »Immer derselbe Undank! Uns Burschen ziehst du weibliche Gesellschaft vor, was?«
Licata: »Sei still, Pasquale, stachle ihn nicht an. Raus aus diesem Zimmer, oder ich werde wütend.«
Carlo: »Du sagst nichts, Modesta? Hab ich dir einen Schreck eingejagt? Verzeih mir!«
Modesta: »Nein, nein, Carlo. Es ist nur, daß … ich bin froh, dich reden zu hören und …«
Licata: »Komm, Modesta, es reicht! Gehen wir, hab ich
Weitere Kostenlose Bücher