Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Der Wald breitete sich schweigend aus und genoß seine gleichgültige Stille: »Ich habe in Modica etwas zu erledigen, eine Woche lang können wir uns nicht sehen …«
Würde er kommen? Warum diese Information? Noch nie hatte er mir von seinen Angelegenheiten erzählt. »So sind wir Tudia nun einmal, wenn uns etwas nicht paßt, zerstören wir es ganz langsam, sanft oder hart, je nachdem …« Wer ist dein Sohn, Carmine? Wer ist dieser Junge, der wie eine Katze oder ein Hase zwischen den Bäumen hindurchzuschlüpfen und die Masse seines Körpers in einen schnellen, schwerelosen Schatten zu verwandeln weiß?
»Was ist, Modesta, wieso stehst du angezogen da, hast du auf mich gewartet?«
»Ja, das habe ich, Mattia.«
»Und was soll die Pistole in deiner Hand? Ich hab’s gespürt, kaum vom Pferd abgestiegen, habe ich gespürt, daß irgend etwas in diesem Haus anders geworden ist. Was bedeutet das Licht im ersten Stock?«
»Sag mir lieber, wann du zurückgekehrt bist.«
»Bist du eifersüchtig, Modesta? Leg die Pistole weg, ich will dich umarmen … Du bist eifersüchtig, sag die Wahrheit! Und willst mich erschrecken.«
»Wie geht es deinem Bruder Vincenzo?«
»Das wollte ich dir gerade erzählen. Ich habe mich verspätet, weil ich ihn heute abend nach meiner Rückkehr aus Modica im Bett vorgefunden habe.«
»Mit einem verletzten Bein.«
»Woher weißt du das?«
»Mein Schwager hat ihn gesehen.«
»Dein Schwager war in einer Kneipe im Civita-Viertel? Was wollte er da?«
»Er war nicht in der Civita, Mattia. Dein Bruder hat dich angelogen, und wie ich gehört habe, fährt er dein Motorrad.«
»Manchmal ja.«
»Er hat dich angelogen, er war in der Via dei Tipografi.«
»Was ist passiert? Spann mich nicht auf die Folter, quäl mich nicht, sag schon, was ist passiert?«
»Zu fünft haben sie Carlo angegriffen, und er ringt dort oben in dem erleuchteten Zimmer mit dem Tod.«
»Mein Bruder soll einer der fünf gewesen sein? Das glaube ich nicht, wer behauptet das?«
»Dein Bruder war dabei. Mein Schwager selbst hat ihn gesehen. Er hat unter den fünf einen Tudia erkannt!«
»Einen Tudia? Also hast du mich verdächtigt und dein Schwager auch? Du antwortest nicht? Leg die Pistole weg!«
»Nein, nicht bevor du meine Schlüssel nicht auf den Tisch gelegt hast.«
»Also verdächtigst du mich immer noch, wieso bloß?«
»Du hast mir zu oft gedroht, Mattia! Diese Drohungen nagen in mir.«
»Leg die Pistole weg, du hast recht, Mattia ist verrückt und weiß sich nicht zu bremsen. Genau darüber habe ich nachgedacht, als ich hierhergekommen bin. Mein verdammter Charakter! Immer bringt er die anderen dazu, an mir zu zweifeln. Und je mehr ich sie liebe, um so mehr … Leb wohl, Modesta! Dunkelheit hat sich über meine Augen gelegt. Nie zuvor hat mir etwas so deutlich gezeigt, daß du mich nicht liebst, wie dieses unbewegliche Gesicht und der Zweifel, der dich verschlingt. Leb wohl, jetzt gehe ich zu diesem Verräter und zwinge ihn zu reden, und wenn es stimmt, dann bring ich ihn um und mich auch, das schwör ich!«
»Endlich, Modesta! Warum behandeln sie mich wie ein Kind? Sie verbieten mir alles! Ich muß mit dir reden!«
»Warum, warum! Du hast uns so oft wie Kinder behandelt, jetzt bist du an der Reihe, nicht wahr, Antonio? Hast du etwa geglaubt, daß dich dein Status als Arzt davor rettet, im Bett zu liegen und Befehle entgegenzunehmen? So rächen wir uns, nicht wahr, Elena? Für all die Male, die du …«
»Wie lieb du bist, Modesta! Du hast recht. Aber ich bitte dich, ich brauche wenigstens einen Moment allein mit dir. Bitte, schick die anderen fort.«
Sein Gesicht, das bis vor wenigen Stunden unversehrt gewesen war, überzog sich immer mehr mit roten und bläulichen Streifen und Flecken. Was bedeutete dieses Zucken der Venen? Was wollten diese blaßblauen kleinen Schlangen, die wie wild gewordene Tiere von der Stirn bis zum Hals liefen, sagen? Und wenn Antonio zur Tür hinausging und Elena bedeutete, ihm zu folgen, hieß das etwa, daß es inzwischen zwecklos war, ihn zum Schweigen zu bringen?
»Dann hören wir uns doch mal an, was dieses Kind zu sagen hat. Was gibt es denn so Dringendes, Carlo? Aber sprich leise, dir tut die Brust weh.«
»Mehr als der Schmerz quält mich etwas anderes, etwas, das mich nicht atmen läßt.«
»Was denn, Carlo?«
»Ich fühle mich schuldig, Modesta, schuldig gegenüber dir, Beatrice und der gerade geborenen Kleinen.«
»Und warum?«
»Ich habe deine Pistole nicht
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