Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
gesagt.«
Genosse Licata hatte recht. Was redete ich da bloß? Warum stammelte ich? Ich fand nicht die richtigen Worte für ihn. Wie konnte das sein? Zum ersten Mal in meinem Leben schluchzte ich im Beisein von drei fremden Männern hemmungslos hinter einer geschlossenen Tür und schämte mich nicht, mich zum Sessel führen zu lassen.
Licata: »Nein, Modesta, nicht doch! Er könnte dich hören, und das würde ihm nicht helfen.«
Modesta: »Aber er sieht furchtbar aus, Doktor, man hat ihn schlimm zugerichtet.«
Licata: »Er ist jung, Modesta, und wir werden ihm helfen. Um Gottes willen, beruhige dich doch!«
Pasquale: »Vielleicht hätten wir ihn nicht hierherbringen dürfen, aber er hat selbst darum gebeten, bevor erohnmächtig geworden ist. Was hätten wir tun sollen, Antonio?«
Licata: »Du hast richtig gehandelt, Pasquale. Wohin wolltest du ihn bringen? In die Notaufnahme, die voller Schwarzhemden ist? Dieses verdammte Land! Von einem Tag auf den anderen sind alle Faschisten geworden.«
Pasquale: »Genau das haben Jose und ich auch gedacht. Entschuldigung, Modesta, was hätten wir tun sollen? Entweder zu dir oder zu seiner Frau.«
Licata: »Um Himmels willen! Beatrice geht es nicht gut, trotzdem muß man ihr leider Bescheid geben … Modesta, ich möchte nicht, daß sie ihn sieht! Wir wissen alle, was dann passieren würde. Das wäre eine Hölle aus Ohnmachten und Tränen!«
Was tat ich da? Die letzten Worte des Genossen Antonio holten mich wie ein Peitschenhieb in die Realität zurück, und endlich sah ich sie: Pasquale trug den Arm in einer Schlinge um den Hals, Arm und Hand zerquetscht, und Joses Augen waren geschwollen wie die eines Boxers. Ich wurde rot vor Scham.
Licata: »Du brauchst dich doch nicht zu schämen, Modesta! Jetzt übertreib nicht! Du warst sehr tapfer und hast die ganze Nacht verbunden und verarztet. Glaub mir, ich komme mir vor wie in einem Krankenhaus. Und jetzt, wo du lächelst, gehe ich entweder und lege mich zwei Stunden hin oder fange selbst an zu weinen. Mein Gott! Es ist eine Sache, Fremde zu versorgen oder … aber lassen wir das. Bis morgen … heute habe ich einen vollen Tag im Krankenhaus. Ich schicke dir Guido, ihm können wir vertrauen. Und wo du schon A gesagt hast, Modesta, sag auch B: Behalte die beiden Jungen hier, bis sich die Wogen unten in Catania geglättet haben. Maria ist im Gefängnis in Sicherheit, aber der Zeitungsverlag istabgebrannt. Ich gehe jetzt. Nur Mut, ihr beiden, und bis morgen abend! Ruht euch aus!«
Endlich sah ich sie: Sie waren jung und sorgten sich weder um den Schlaf noch um ihre Verletzungen. Joses geschwollene Lippen verwandelten sich innerhalb einer Nacht wieder in die feinen und ironischen Linien, die ich von den Fotos kannte. So würde es auch Carlo gehen: »Er ist jung, er wird es schaffen.« Das hatte der Genosse Licata gesagt, und der war Arzt.
Modesta: »Bist du Jose, Marias Sohn?«
Jose: »Ja, woran hast du das erkannt?«
Modesta: »Sie reden unausgesetzt von dir. Carlo hat dein Foto neben das von Bambolina gestellt.«
Pasquale: »Wundert dich das, Jose? Hoffst du immer noch darauf, unbeobachtet durchzugehen, so dürr, wie du bist, und …
Jose: »Die Nase? Sag’s ruhig, Pasquale. Er ist neidisch auf meine Nase, Modesta, die Polizisten und Mädchen besonders fasziniert. Er ist ganz neidisch, denn Mutter Natur, geizig, aber weise, hat mich schlau, aber häßlich gemacht, während er zu gut aussieht und …«
Pasquale: »Dumm ist, sag’s schon!«
Jose: »Nein, ein Dummkopf bist du nicht, aber eben bloß durchschnittlich intelligent.«
Modesta: »Er scherzt wie Carlo, nicht wahr, Pasquale?«
Pasquale: »Genauso! Wenn die beiden zusammen sind, kann man nur das Weite suchen! Sonst bleibt einem nichts erspart.«
Modesta: »Und wann bist du angekommen, Jose?«
Jose: »Gerade richtig zum Fest. Glücklicherweise hatte der Zug Verspätung! Ich habe es dir ja erzählt, Modesta.«
Modesta: »Ja? Ich erinnere mich an gar nichts mehr von heute nacht.«
Pasquale: »Ich habe auf seinen Zug gewartet, er hatte zwei Stunden Verspätung … Wenn man bedenkt, daß ich Gewissensbisse hatte, nicht zur Versammlung gegangen zu sein. Statt dessen sind wir wegen dieser Verspätung genau zur richtigen Zeit eingetroffen. Ich darf gar nicht daran denken – wenn wir alle dort oben gewesen wären, hätten sie ihn erledigt.«
Modesta: »Haben die oben gar nichts gehört?«
Pasquale: »Wie denn, Modesta? Sie haben ihn drei Straßen vorher
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