Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
benutzen wollen. Du hattest recht, Modesta, aber ich konnte einfach nicht! Jeden Morgen habe ich sie angeschaut und deine Stimmegehört, aber der Widerwille war stärker, und ich habe die Schublade wieder zugemacht.«
»Das ist egal, du darfst jetzt nur daran denken, gesund zu werden.«
»Ich ertrage keine Gewalt, Modesta. Es muß einen anderen Weg geben. Ich bin mir sicher, daß die Menschheit in fünfzig oder hundert Jahren einen anderen Weg finden wird.«
»Bestimmt, Carlo.«
»Und wenn ich sterben sollte … Nein, Modesta! Du brauchst nicht blaß zu werden. Ich habe keinerlei Absicht, dem Sensenmann, wie ihr ihn nennt, ein Stelldichein zu geben. Dieser Herr ist mir überhaupt nicht sympathisch, aber falls …«
»Falls was, Carlo?«
»Schütze mich vor den schwarzen Mönchskutten, vor den Kreuzen und den düsteren Gesängen, die vielleicht noch düsterer sind als die Vorstellung zu sterben.«
»Natürlich, Carlo. Wie du gesehen hast, ist kein Priester hier hereingelangt. Weißt du, daß sie es versucht haben? Aber Jose hat sie verscheucht.«
»Wirklich, hat er sie verscheucht? Und woher wußten sie von mir?«
»›Sie haben einen gut ausgebildeten Spürsinn, und ihren schützenden Flügeln entkommt man nicht …‹ Wie du mir oft genug gesagt hast.«
»O Modesta, deine Worte beruhigen mich. Beschütze mich auch danach vor Beatrice. Sie ist stark, Modesta, ich habe Angst vor ihr!«
»Aber du weißt doch, Carlo, daß ich stärker bin als sie.«
»Deshalb habe ich mich hierherbringen lassen, beschütze mich.«
»Ich verspreche es dir, Carlo.«
»Danke. Jetzt bin ich beruhigt.«
»Jetzt mußt du still sein und schlafen.«
»Ja, das tue ich. Aber morgen liest du mir ein paar Zeilen vor?«
»Natürlich. Welches Buch wünscht sich der zum Kranken degradierte Herr Doktor?«
»Modesta, deine Scherze wärmen mein Herz … mir war so kalt!«
»Du hast mir beigebracht zu scherzen, weißt du noch, wie ernst und stumm ich war?«
»Und wie: Ich hatte Angst vor dir!«
»Sprich jetzt lieber nicht mehr.«
»Aber morgen liest du mir etwas vor?«
»Ja. Aus welchem Buch?«
»Hast du noch Niels Lyhne ?«
»Natürlich, es liegt immer auf meinem Nachttisch.«
»Bei mir auch, anstelle der Bibel von Großmutter Valentina.«
»Du darfst jetzt nicht mehr reden, morgen komme ich und lese dir vor.«
»O ja, die Stelle, wo er die Tante auf dem Sofa sitzen sieht und sich in sie verliebt. Erinnerst du dich daran?«
»Ja, aber jetzt schlaf. Jose sieht uns an wie ein Polizist, wir haben deine Großzügigkeit genug strapaziert, nicht wahr, Jose?«
»Und ob! Jetzt reicht es, ab ins Bett mit euch. Keine Sorge, Carlo, in vier Stunden kommt das Fräulein Elena wieder. Ich weiß, daß du sie lieber um dich hast, aber die paar Stunden mußt du mit mir vorliebnehmen.«
Schweigen und Husten, plötzliche Dämmerzustände, die von Krämpfen und blutigem Auswurf unterbrochen wurden, ließen nicht zu, daß ich ihm einige Zeilen vorlas.Elena hielt die Schüssel in den Händen. Anstelle von Jose war Antonio Licata da.
»Wird er sterben, Antonio? Mir kannst du es sagen.«
Antonio antwortet nicht, ganz damit beschäftigt, seine Brille zu putzen. Sein Schweigen und Carlos Husten sagen alles. Ich wende die Augen von der Schüssel voller Blut ab und lege das Buch auf den Nachttisch. Carlo könnte so wie gestern die Augen öffnen, dann würde er es wenigstens sehen.
In meinem Büro starrt Pietro unbeweglich aus dem Fenster, die Mütze in der Hand.
»O Mody, jetzt verstehe ich, warum Euer Durchlaucht die Vorhänge haben abnehmen lassen: der Blick ist schön … Habt Ihr mich wegen des Herrn Carlo gerufen?«
»Das hast du richtig verstanden, Pietro.«
»Habt Ihr irgendeinen Anhaltspunkt, der Pietro den Weg weisen könnte?«
»Keinen Anhaltspunkt, Gewißheit.«
»Ich wußte es, Mody. Sag mir die Namen.«
»Turi und Ciccio Musumeci und Vincenzo Tudia.«
»Und die anderen? Es waren fünf.«
»Die haben wir nicht gesehen.«
»Wir werden sie schon ausfindig machen.«
»Immer mit der Ruhe, Pietro. Jetzt kümmern wir uns erst einmal um diese drei Namen. Soll ich sie dir wiederholen?«
»Pietro braucht keine Wiederholung.«
»Hast du gehört, was mit Beatrice passiert ist?«
»Ja, das habe ich. Ich wollte nicht glauben, daß soviel Trauer über uns und unsere Häuser kommen kann, und habe sie sehen wollen.«
»Sie ist verrückt geworden, Pietro. Darum lacht sie. Und vielleicht ist das besser für sie.«
»Vielleicht … Aber
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