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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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unerklärliche Röte entstellt Joyces Gesicht. Dabei will ich, daß sie immer schön ist, das klare Elfenbein ihrer Stirn weder in Freud noch Leid von Falten oder Schamesröte getrübt. Plötzlich verstand ich, was ein vollkommenes Gesicht häßlich machte, ein unregelmäßiges Gesicht schön. Es war das Gesamtbild, das zählte. Wenn sich Melas schiefes Dreieck, in dem man nur die Augen als schön bezeichnen konnte, mit Röte überzog, machte dies ihre ganze Erscheinung anziehender. Die Röte stellte in gewisser Weise die logische Fortsetzung von Zaghaftigkeit und Unsicherheit dar, die das Mädchen in sich trug.
    »Warum entfernt Ihr Euch, Modesta?«
    »Ich entferne mich nicht. Ich wollte nur das Meersehen. Es ist ganz ruhig und heiter, als hätte es das Unwetter von gestern nie gegeben. Die Unbeirrbarkeit der Natur oder das Fehlen von Reue. Sie bringt Schrecken und Tod, und dann …«
    »Eure Fähigkeit auszuweichen, obwohl Ihr nur zwei Schritte von mir entfernt steht, ist erschütternd, das habe ich gestern während des Gewitters schon bemerkt, Modesta. Habe ich vielleicht erneut etwas gesagt, das Euch beleidigt hat?«
    »Nein, Joyce.«
    »Oder seid Ihr über meine Entscheidung enttäuscht, wie Carlo und Jose?«
    »Welche Entscheidung? Ich verstehe nicht …«
    »Sie konnten sich nie damit abfinden, daß ich die Politik vernachlässigt habe, um mich mit Leib und Seele dem Studium der Psychoanalyse zu verschreiben. Vor allem Jose tobte. Er sagte, nur die Revolution könne die Seelen heilen, und diese mehr poetischen als wissenschaftlichen Phantastereien seien nur eine weitere geniale Erfindung der Bourgeoisie, um die Intelligenzia von dem eigentlichen Problem abzulenken. Nun verkündet er, wo immer er hinkommt, daß Reich erst letztes Jahr eine Arbeit veröffentlicht hat, in der er die Meinung vertritt, daß das, was wir Psychoanalytiker Todesinstinkt nennen, ein Produkt der kapitalistischen Gesellschaft sei. Noch ein Schüler, der seinen Lehrer verrät. Wie haben wir darüber gestritten! Mir war schon immer klar, daß Marxismus und Psychoanalyse unvereinbar sind. Und doch habe ich es versucht, sowohl in meinen Studien als auch privat, und dabei Jahr um Jahr meines Lebens verschwendet. Und heute, mit fast vierzig, bin ich weder in der Lage, Politik zu machen noch zu heilen. Ich hätte nur studieren sollen. Oh, Modesta, lehrt mich, wie manglücklich ist! Denn Ihr habt Euch dafür entschieden, glücklich zu sein. Als Ihr sagtet: ›Die Umstände zählen nicht so sehr‹, hörte ich heraus, daß Eure Ausgeglichenheit das Ergebnis eines Willensaktes ist. Wie könnte es auch anders sein? Vielleicht mußtet Ihr Verluste verkraften, die weit härter waren als meine … Prando hat mir erzählt, daß Euer Gatte, der Fürst, nach wenigen Ehejahren schwer erkrankte und Euch allein zurückließ. Woran starb er? Ich habe Prando nicht gefragt, er ist noch so jung, aber ich dachte sofort an Syphilis. Nach allem, was man hört, war er ein Schürzenjäger … Progressive Lähmung, nehme ich an. Aber warum seht Ihr mich so an? Bin ich vielleicht zu weit gegangen?«
    Zum ersten Mal in meinem Leben packte mich das wilde Verlangen, mich jemand anderem als mir selbst auszuliefern. Joyce sah mich abwartend an, und einen Moment zögerte ich: Sollte ich mich bei ihr genauso geben wie bei den anderen? Wollte sie selbst mich vielleicht so? Oder sollte ich ihr sagen, wer ich in Wirklichkeit war, und sie damit verlieren? Ich schloß die Augen.
    »Warum schließt Ihr die Augen, Modesta? Aber was rede ich da? Ihr müßt müde sein nach der Nacht im Sessel …«
    In der Dunkelheit meiner geschlossenen Lider maß ich jede Nuance, jede Pause oder leichte Beschleunigung ihrer Stimme und beschloß, daß diese klangvolle, zerklüftete Tiefe zumindest in mir keine halben Sätze, Versteckspiele oder andere Kindereien zuließ.
    Entschlossen öffnete ich die Augen, und in ihren Blick, der wie ein weites Gefäß Gefühle, Tränen, Freud und Leid aufnahm, ohne zu brechen, ergoß ich all die schönen und schmerzlichen Stationen meines, wie mir damals schien, langen Lebens.

63
    Als meine Stimme verstummte, überfiel mich eine solche Mattigkeit, daß ich mitten im Raum stehenblieb und mit dem Blick nach Halt suchte. Während der Erzählung war ich wohl herumgewandert, immer auf und ab zwischen dem Fenster und dem nun leeren Bett, auf dem nur ein Abdruck noch an Joyces Körper erinnerte. Auch sie hatte sich erhoben und starrte mich aus einer so

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