Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
dasselbe.«
»Da hast du wohl recht, denn von dem Augenblick an, da ich den Zweifel kennengelernt habe, hat mich eine ungeahnte Melancholie gepackt und hält mich gefangen.«
»Es ist aus Furcht vor jener Melancholie, daß der Mensch sich mit Gewißheiten und Glaubensbekenntnissen umgibt. Aber der Mensch ist noch zu klein, um etwas zu wissen, er hat gerade mal lesen und schreiben gelernt. Und die, die er für Götter hält, sind Götzen, die ihm nur Opfer abverlangen.«
»Diesen Winter war ich in Berlin. Seit Jahren bin ich nicht dort gewesen, Modesta, und ich sah Männer und Frauen, die auf der Straße liefen, obwohl der Bürgersteig frei war. Zuerst beachtete ich es nicht, aber dann fiel mir auf, daß sie alle ein Zeichen am Arm trugen. Gekennzeichnet waren sie, wie man bei uns das Vieh kennzeichnet. Eingezwängt zwischen Verkehr und Bürgersteig huschten sie dahin … Ich war im Krieg, und mir macht keiner etwas vor. Wohin wollen sie diese gezeichnete Herde treiben? Ich fragte nicht weiter, als ich das gleiche Zeichen an Türen und Geschäften wiederfand, doch stieg ich in den erstbesten Zug, um niemals in dieses Land zurückzukehren, das ich sauber und unbeschwert in Erinnerung hatte.«
»Und das ließ dich zweifeln?«
»Unter anderem … oder vielleicht, wie du gesagt hast, weil ich lesen und schreiben gelernt habe, während Carmine nur seine Abrechnungen und seine Unterschrift beherrschte … Meinst du, ich habe Frau und Heim und Sohn verloren, weil man sie, wie es heißt, Hagel und Sturm und dem Sensenmann aussetzt, wenn man sichnicht eigenhändig und mit wachem Auge um sie kümmert?«
»Vielleicht, Mattia, vielleicht.«
68
Vielleicht hat Joyce in ihrem Zimmer, allein mit ihrem Schmerz, den Schmeicheleien des Sensenmannes nicht widerstanden. Noch nie war es Modesta passiert, daß sie ihre Freundin so ganz und gar vergessen hatte. Als sie es merkt, treibt die reuevolle Sorge sie die Treppe hinauf. Die angelehnte Tür bestätigt ihr, daß Joyce auf sie gewartet hat. Der Schein des kleinen Halbmonds aus rosafarbenem Opalglas auf dem Nachttisch beleuchtet ein regloses weißes, versteinertes Gesicht. Voller Sorge wegen der unnatürlichen Blässe beugt Modesta sich über das Bett, bis sie den leichten, duftenden Atem wahrnimmt, der sie weit zurück in die Vergangenheit trägt, als Prando noch ein weiches, kleines Knäuel Mensch war. Bei dieser Erinnerung steigen ihr unbegreiflicherweise die Tränen in die Augen … Jò atmet leise, während sie innerlich einem heiteren Traum zu folgen scheint. Warum schiebt sich dann, sobald die Sonne aufgeht, eine stumme Maske der Traurigkeit über ihr Gesicht? Warum?
»Die Sphinx, Mody, die Sphinx! Wenn du genau hinsiehst, verbirgt sie hinter ihren lebendigen Lippen ganz bestimmt die Goldzähne mit dem in den langen Eckzahn eingelassenen Diamanten.«
Eine unsinnige Angst läßt mich ins Freie flüchten. Nur fern von diesem Zimmer, am leeren, von den ersten Sonnenstrahlen gestreiften Strand, wo ich auf und ab laufe, kann ich über diese kindische Angst vor Monsternlachen, vor Sphinxen, vor all den Zauberwesen, die laut Tuzzu im Morgengrauen die Weinberge, die riesigen, steil abfallenden Lavafelsen, die schuppigen Rücken der blauen Meeresungeheuer bevölkern … Auch jetzt, zwischen Myriaden hungriger, schlafloser Möwen, sieht die kleine Insel des Propheten aus wie ein großer, von Krämpfen geschüttelter Kopf, der schon halb in den Wellen versunken ist … Er ertrinkt oder wird, wie Stella erzählt, von der Mutterinsel zurückgesogen. Mit dem Rücken an die Holzhütte gelehnt, kann Modesta sich von ihren Gedanken lösen, von Vergangenheit und Zukunft, und sich ganz den Klagen der Möwen hingeben, dem dumpfen Raunen der Brandung, dem weißgoldenen Schein der ersten Sonnenstrahlen. Und fast hätte sie das unterdrückte Zischeln hinter der Bretterwand überhört. Das müssen die Möwen sein, denkt sie, doch dann nähert sie ganz vorsichtig den Kopf der Hüttenwand. Ist das nicht die Stimme von Bambolina?
»Hast du keine Schritte gehört, Mela?«
»Nein, wahrscheinlich sind es die Möwen, die mit den Resten unserer Tafel ein Festmahl veranstalten.«
»Aber ich …«
»Sie haben doch auch das Recht zu feiern, oder?«
»Wie schön du bist, Mela, wenn du lachst!«
»Du bist immer schön! Wahrhaft schön, auch wenn du nicht lachst.«
»Nein, du bist immer schön, immer.«
»Egal, komm her zu mir, dann verschmelzen wir miteinander und werden zu einer einzigen
Weitere Kostenlose Bücher