Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
geschlafen.«
»Weil du mich in den Armen hältst und mich anlächelst.«
»Dann laß mal hören, was hast du herausgefunden?«
»Küß mich zuerst, küß mich. Ich möchte deine nackte Haut spüren. Wenn wir uns nackt aneinanderschmiegen, sind wir wie eine Person. Heute morgen hatte ich eine Erscheinung, die Bäume haben mir gesagt, daß … na, komm schon zu mir, halt mich fest, ganz fest.«
»Was haben dir die Bäume gesagt, Kleines?«
69
» … Sie haben sich in der Hütte geliebt? Und was hast du gemacht?«
»Nichts. Warum wirst du so blaß, Jò? Keine Sorge, ich habe alles getan, um nicht entdeckt zu werden, und bin dann ins Haus gegangen.«
»Aber wenn du mir jedes Wort berichten kannst, das sie gesagt haben, mußt du sie belauscht haben.«
»Belauscht? Was heißt das? Ich war wie vom Blitz getroffen von ihrem Glück, sie waren wunderschön, wie sie einander nackt in den Armen lagen.«
»Dann hast du sie also auch gesehen?«
»Ganz kurz, bevor ich wegging.«
»Pfui Teufel!«
»Pfui Teufel was, Jò? Daß ich sie belauscht habe, wie du es ausdrückst, oder daß sie sich umarmten?«
Die rätselhafte Maske aus Schmerz zerbricht unter der Schamesröte, die vom Hals bis zur Stirn hinaufflutet und Modestas Blick mit sich reißt, der an den zerbröselnden und herabrutschenden Marmorzügen haftet. Früher hätte sie die Stille respektiert, die das Antlitz brauchte, um sich langsam wieder zusammenzufügen.
»Pfui Teufel was, Joyce? Pfui Teufel wir beide, die wir uns eben noch nackt in den Armen lagen?«
»Oh, wir! Wir sind verloren, Modesta, aber Bambolina ist noch so jung … Oh, diese Mela! Ich habe sie nie gemocht, nie! Sie muß weg!«
Zerrissen der schützende Mantel des Schweigens, bricht nun auch die Stimme.
»Wir, verloren? Was redest du da? Verloren wofür?«
»Für die Normalität, die Gesetze der Natur …«
»Was redest du da bloß, Jò? Wer kennt schon die Natur? Wer hat die Gesetze geschaffen? Der christliche Gott? Oder Rousseau? Antworte mir, Rousseau, der den Gott vom Himmel herabgeholt hat, um ihn in einen Baum zu setzen?«
»Was haben Rousseau oder Gott damit zu tun, ich fürchte um Bambú! O Modesta, du hast ja keine Ahnung. In Paris, in diesen Treffpunkten für Homosexuelle … Dürre, übereinandergeworfene Leiber, gelbe Gesichter, abgezehrt, gezeichnet von der Scham, in der rauch- und alkoholgeschwängerten Luft … ein wahres Vorzimmer zur Hölle, wenn es die Hölle gäbe! Du hast ja keine Ahnung.«
»Habe ich doch, weil ich da war und …«
»Warst du? Ich nie … nur ein einziges Mal, und da bin ich sofort wieder geflohen.«
»Das war ein Fehler, weil ich erst bei ihnen und im Gespräch mit ihnen verstanden habe, was sie in diesem Vorzimmer zur Hölle, wie du es nennst, suchen.«
»Was können sie schon suchen? Sie vermengen sich und nehmen Drogen, um zu vergessen.«
»Nein, Jò! Sie suchen die echte Hölle, um ihre Schuld zu sühnen.«
»Was sonst sollen sie auch tun, wenn die Gesellschaft sie zurückweist und mit dem Finger auf sie zeigt?«
»Sie können nichts tun. Aber nur weil sie ebenso dummund voreingenommen sind wie die Gesellschaft, die auf sie zeigt. Und sie stellen ihre Wunden nur zur Schau, um die Gesellschaft um Milde anzuflehen, weil auch sie, gerade sie, jene als heilig und gerecht ansehen, anstatt sie zu bekämpfen. Jò, komm wieder zu dir! Worüber haben wir denn in all den Jahren geredet? Wie ich sehe, haben wir nett über den Fortschritt geplaudert, über die Wissenschaft wie in den progressiven Salons, aber beim ersten Zusammenprall mit der Realität willst du mich in dieselbe Panik versetzen, die dich wie alle Intellektuellen erfaßt, wenn ihre heißgeliebten Theorien auf die Praxis treffen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Du verstehst ganz genau! Du willst, daß ich Mela fortschicke, oder?«
»Ich will nicht …«
»Das hast du gesagt. Aber siehst du denn nicht, daß ich damit den Mädchen vermitteln würde, daß sie gesündigt haben? Daß ich sie brandmarken würde, ich, die ich für sie die Gesellschaft repräsentiere, wie dein Freud sagt? Und was bliebe ihnen dann übrig, als in einem dieser Lokale zu enden? Und da kommt mir ein Zweifel, Jò … Wer hat dir diese Schamesröte eingeimpft? Du warst in keinem Kloster.«
»Nein, ich war in keinem Kloster, das weißt du.«
»Ja, eines der wenigen Dinge, die ich von dir weiß. Dann war es deine Mutter?«
»Nein!«
»Also dein Vater?«
»Mein Vater! Mein Vater hielt sich für einen Freidenker und
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