Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Modesta, ich wollte nur noch sterben.«
»Ich weiß.«
»Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?«
»Ein Zufall, Joyce. Ich war nicht da. Bambolina kam zufällig hinauf, und Mattia hat die Tür mit Gewalt geöffnet.«
»Mattia? Und ich nackt in der Wanne? Wie peinlich! Dir ekelt vor mir, Modesta, ich weiß.«
»Nein, ich fühle nur Machtlosigkeit und sehr viel Rührung.«
»Wann hat man mich zurückgebracht?«
»Heute nacht um drei, vier Uhr, ich weiß es nicht. Ich weiß nur noch, daß es endlich zu regnen begonnen hatte. Schau nur, wie es schüttet! Stella sagt, es sei eine Wohltat.«
»Oh, Stella, ich habe sie schlecht behandelt.«
»Stella versteht das. Sie war nur besorgt, weil du die Bouillon nicht trinken wolltest.«
»Ach ja?«
»Ja, und wenn wir es schaffen, diese Tasse leer nach unten zu schicken, wird Stella deine Unart sofort vergessen.«
»Unart, wie merkwürdig eure Sprache doch ist.«
»Wollen wir also diese Tasse austrinken, um deine Unart wiedergutzumachen?«
»O ja, ich habe solchen Durst!«
Löffel um Löffel wandert nun durch ihre rissigen Lippen in den Mund, jeden Morgen Milch, Kekse und ein wenig Marmelade, bis zu jenem sonnigen Nachmittag nach einer Woche Regen, als Joyce am Fenster sitzt und eigenhändig die Tasse Tee an die geheilten Lippen führt.
»Prando war vorhin hier und hat sich verabschiedet, als würde er nach Amerika aufbrechen. Er hat sich sehr verändert, er ist erwachsen geworden, wirkte aber sehr ausgeglichen.«
»Er wird eine eigene Wohnung haben, mit eigenem Schlüssel, und frei sein, zu kommen und zu gehen, wann er will, und zu tun und zu lassen, was er will.«
»Und ’Ntoni? Ich habe ihn seit Tagen nicht gesehen.«
»Tja, da ist viel passiert! Angelo Muscos Tod hat seine Fluchtpläne platzen lassen, und nun übt er wie besessen,weil er herausgefunden hat, daß es in Rom eine Schauspielschule gibt. Hast du je von ihr gehört?«
»Ich habe mich nie viel mit Theater beschäftigt.«
»Na, ist auch nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, daß er mit einer Prüfung zu den Kursen zugelassen werden könnte, obwohl er noch so jung ist. Und wenn er gut ist, besteht sogar Hoffnung auf ein Stipendium.«
»Und wann hat er diese Prüfung?«
»Kommenden Monat.«
»In Rom … Und wir zwei, Modesta?«
»Was, wir zwei, Joyce?«
»Ich spreche und frage, aber ohne echtes Interesse. Es ist schrecklich, es ist, als sei ich tot und liege begraben in deinem Garten, wie du einmal aus Spaß gesagt hast. Wäre ich doch neulich gestorben, als du mich im Park fast überfahren hast. Ich dachte, du kämst von einem deiner Mittagessen mit Anwalt Santangelo zurück, doch dann …«
»Was dann?«
»Dann wurde mir klar, daß du Timur getroffen hattest. Ist es so?«
»Ja. Ich hätte es dir noch gesagt.«
»Oh, geh weg, geh! Da hättest du mich gleich umbringen können. Ich hasse euch alle, geh weg!«
»Und ich wollte dich jetzt, wo es dir wieder besser geht, an einer freudigen Entdeckung teilhaben lassen, die ich gemacht habe.«
»Was für eine Entdeckung?«
»Prando ist kein Faschist! Er hat endlich mit mir geredet, und daß ein Junge wie er mit unserem Beistand das geschafft hat, gibt mir Hoffnung. Und ich verdanke es auch dir, wenn es mir gelungen ist, daß er nicht endet wie …«
»… wie Timur, sag es nur, wie Timur? Er hat dir alles erzählt.«
»Ja, alles.«
»Alles Lüge! Ich habe Renan nicht in den Selbstmord getrieben. Ich liebte sie mehr als mich selbst. Nicht ich habe ihr an jenem Tag Vorwürfe gemacht. Außerdem waren wir Zwillinge, wir ähnelten uns wie ein Ei dem anderen. In allen Ländern, in denen wir als Kinder waren, empfingen uns Chöre der Bewunderung. Zwei strahlende Edelsteine, so wurden wir genannt. Schau, siehst du diesen Solitär? Papa hat jeder von uns einen gekauft, in jenem Jahr unten in Sofia … Was weiß er schon davon? Er war nicht einmal geboren. Was erlaubt er sich, dummes Geschwätz zu verbreiten, Gerüchte. Was weiß er schon! Als er zur Welt kam, war Papa bereits gestorben. Und mit ihm all das rastlose Herumreisen! Drei Jahre hier, drei Jahre dort. Und immer neue Sprachen, provisorische Freundschaften. Man hatte kaum Zeit, sich anzufreunden, eine Sprache zu erlernen, schon mußte man wieder abreisen, das Haus war noch nicht richtig eingerichtet, da stieg man schon wieder in den Zug … Und dieses Sofia! Eine schreckliche Stadt, gesichtslos, provinziell, alle Blicke lagen auf den Zwillingen des Botschafters. Und war es denn meine
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