Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
laß alles raus! Wenn man gemeinsam darüber spricht, kann man versuchen, es zu überwinden.«
»Was überwinden? Worüber sprechen? Sprechen, sprechen, so ein Unsinn!«
»Was bringt es, zu behaupten, deine Mutter sei tot?«
»Sie ist tot, wollt ihr das nicht endlich einsehen! Tot! Bei Jolands Leichnam habe ich geschworen, daß sie für mich gestorben ist. Sie haßte Joland, sie konnte sie nie akzeptieren. Ich habe auf alle Arten versucht, ihr beizubringen, wieviel sie mir bedeutete, aber es war zwecklos, sie verschloß sich ganz und gar in ihrer Verachtung. Dabei wußte sie um mein einsames Ringen, sie wußte alles von mir … und außerdem hat sie mich in die Welt gesetzt, so wie ich bin, anormal … Sie hat mir dieses Buch gegeben, ich war zwölf oder dreizehn, dieses Buch, das von Fällen wie dem meinen handelte … Wenn sie wenigstens Joland akzeptiert hätte, wären wir nicht so allein gewesen. Aber wie konnte sie, schön, vollkommen, mit ihrem gelungenen Leben, eine so abweichende Verbindung akzeptieren? So sagte sie. Wenn wenigstens sie uns akzeptiert hätte, hätte ich Joland niemals verlassen … und sie, einsam, schutzlos, die arme Kleine, oh, wäre ich doch tot!«
»Das ist einfach, Joyce, ganz einfach. Wie sich folternzu lassen und um der Sache willen ins Gefängnis zu gehen.«
»Wie meinst du das?«
»Solange Menschen wie du zur Schlachtbank gehen, um ihre Schuldgefühle loszuwerden, ist die Sache von Anfang an verloren. Ich habe kein Vertrauen mehr in dich noch in irgendeinen zukünftigen Helden wie dich. Weine nicht, Joyce, es war abzusehen. Vielleicht sind auch wir nur zwei Mörderinnen wie alle anderen. Nur daß ich aus eigener Notwendigkeit getötet habe und ein Vergehen, wenn es notwendig ist, nicht aufgedeckt wird, während du, wie Madre Leonora oder Gaia, im Namen Dritter getötet hast und unter dem Deckmantel ewiger Gefühle und Pflichten.«
»Wäre ich doch tot!«
»Du bist tot, Joyce, weil du endlich jemanden getroffen hast, der töten kann, und besser als du. Nicht eine Joland oder eine zum Mitgefühl erzogene Beatrice, wie man damals sagte … Was rede ich? Wie man heute noch sagt.«
»Genug, genug!«
»Weine nicht, auch wenn das Opfer dir aus der Hand gesprungen ist, verzweifle nicht. Ich liebe dich, wenn auch nicht ewig, aber noch liebe ich dich. Und jetzt auf gleicher Augenhöhe, von Mörderin zu Mörderin.«
»Wohin gehst du?«
»Na, mir die Hände waschen. Es ist acht Uhr, und ich bin hungrig. Ich schicke dir eine Krankenschwester, damit sie nach dir sieht. Ich möchte nicht die Niederlage erleben, den Genossen recht geben zu müssen, indem ich dich am Ende doch in meinem Garten begrabe.«
VIERTER TEIL
75
In sein männliches Schweigen gehüllt, löst Prando sich beim Abschied entschlossen aus Bambolinas verzweifelter Umarmung. Was steckt hinter dieser Verzweiflung, und warum beißt Mela sich auf die Lippen, während sie mich stumm ansieht? Eine Anklage? Ist es meine Schuld, daß sie ihren Liebling verlieren? Ich möchte in sie hineinblicken und ihnen folgen, doch das ist verboten. Es gibt eine klare Grenze für den, der anderen helfen möchte. Jenseits dieser für viele unsichtbaren Grenze liegt nur der Wunsch, dem Gegenüber seine eigene Wesensart aufzuzwingen … Die Lüge, die in den Wörtern verborgen liegt, ist ein bodenloser Brunnenschacht, und Modesta entschließt sich, zu schweigen und aufmerksam den leeren Platz zu beobachten, abends, wenn sie um den ovalen Tisch ihrer Kindheit sitzen, der, von der Treppe aus gesehen, ein gähnender Abgrund ist. Ich kann die Stufen nicht hinabsteigen. Wenn ich mich wenigstens auf Prando stützen könnte, doch von unten klingt Stellas Weinen und Rufen zu mir herauf. Nein, kein Weinen, sie ist nur aufgeregt:
»Modesta, um Himmels willen, komm herunter! Seit Prando fort ist, findet das Haus keine Ruhe.«
»Was gibt es, Stella?«
»Was weiß ich! Jeden Tag etwas anderes! Früher waren sie immer so friedlich. Seit Prandos Abreise …«
»Jetzt hör endlich mit Prando auf, Stella! Mach mich nicht wütend, ich habe gefragt, was los ist, mehr nicht!«
»Es ist nur, daß Jacopo seit … na, in den letzten Tagennicht mehr er selbst war, und seit heute morgen ißt er nicht und verläßt sein Zimmer nicht und wollte nicht einmal für Crispinas Klavierstunde herunterkommen, und da hat die Picciridda angefangen zu weinen. Ich habe Stunden gebraucht, um sie zu beruhigen! Und auch jetzt will er nicht zum Essen herunterkommen … Gehst du
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