Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
gegen mich erheben! Stella wird keinen Mucks tun, nicht unter der Beschimpfung noch unter der Faust. Es war ein Fehler.«
Beim Sprechen hat sie sich langsam erhoben, nun sieht sie mir ohne Scham, aber voll Trauer in die Augen. IhrBlick zwingt mich, aus meinem Erstaunen und meiner Rührung zu erwachen und gerade vor ihr zu stehen … Warum bist du so erstaunt, alberne Modesta? In ihrem Gesicht lese ich, daß es nicht anders sein konnte: Im täglichen Zusammenleben hatte ich vergessen, wie schön sie ist. Geblendet von diesen anmutigen Zügen, beginne ich, mir sie und Prando zusammen vorzustellen … Ich müßte eifersüchtig sein, denke ich, dort, auf der Rotunde der Plaia, war ich eifersüchtig, doch nun kann ich mich beim besten Willen nicht an diese Eifersucht erinnern. Um meine und seine Gefühle besser zu verstehen, ertaste ich mit den Händen ihre vollkommenen Wangen, ihren Hals …
»Du streichelst mich, Mody? Dann bist du also nicht böse.«
Ich lege meine Hand auf ihren Mund. Die Worte stören das Gleichgewicht dieser vollen, warmen Lippen. Sie erwartet ein Urteil von mir, doch ich kann nicht sprechen, denn anstelle der Eifersucht packt mich der Neid auf diesen Jungen, dem es gelungen ist, soviel Schönheit für sich zu erobern.
»Du, Stella, hast meinen Jacopo gestillt, hast Bambolina und Prando großgezogen, und diese Hingabe hat keinen Preis, das weißt du. Und du weißt, daß jener Fehler, wie du es nennst, ein Fehler aus Zuneigung war, für den weder ich noch sonst jemand dich verurteilen kann.«
»Wie hätte ich diesem Jungen den Trost verweigern dürfen? Ich hätte es wohl müssen, aber ich bin nicht stark und hätte an jenem Abend alles getan, um ihn nicht mehr weinen zu sehen.«
»Welcher Abend, Stella?«
»Der Abend, an dem ihr in Streit gerietet und er sich aus dem Haus gejagt fühlte.«
Die exakte Logik des Lebens leuchtet mir mit solcherKlarheit ein, daß ich mich sagen höre: »Die Wege der Begierde sind unergründlich.«
»Die Wege des Herrn, sagst du, Mody? Meinst du, daß dieses Kind gesegnet ist?«
Ich darf ihr Empfinden nicht korrigieren, sie hat einen gütigen Herrn aus Fleisch und Blut, diese Frau mit den Sternenaugen.
»Ja, Stella, für mich ist dieses Kind gesegnet.«
»… Der Botschafter kommt auf seinem Kamel … Der Botschafter …«
»O Gott! Das ist Crispina! Die Kinder … Welch eine Schande! Was machen wir bloß mit den Picciriddi, Mody? Diese Schande!«
»Beruhige dich, Stella, ich kümmere mich um die Kinder. Pack du deine Koffer. Großes Gepäck, wir werden sechs Monate unterwegs sein.«
»Sechs Monate, Mody? Warum das?«
»Weil ich den Ärzten hier nicht traue. Erinnerst du dich an den jungen netten Arzt in Mailand?«
»Aber ja, ja! Vor dem mußte ich mich nicht schämen.«
»Wir werden tun, was er uns geraten hat: Dein Kind wird in der Schweiz auf die Welt kommen.«
»Aber ich werde mich dort allein nicht zurechtfinden.«
»Ich werde bei dir bleiben. Jacopo und Bambolina werden die Führung des Hauses übernehmen, sie sind alt genug, und es wird Zeit, daß sie mit Anwälten und offiziellen Schreiben umgehen lernen.«
»Wenn das so ist, soll es mir recht sein. Nur daß das Leben auf dem Kontinent so teuer ist.«
»Mattia hat meine Angelegenheiten in Amerika erledigt. Er ist mit einem Vermögen zurückgekehrt. Auch damit wird Bambolina sich beschäftigen müssen … Herein, Crispina, herein, Jacopo! Seid ihr fertig mit Lernen?«
»Alles erledigt, Mama, es macht Spaß, Crispina zu unterrichten. Ich könnte fast Lust bekommen, den Lehrerberuf zu ergreifen … Wie schön du heute bist, Stella! Wenn ich sehe, wie gut sie dich auf dem Kontinent geheilt haben, bin ich froh, daß ich mich entschieden habe, Arzt zu werden.«
Angstvoll blicken Stellas Augen mich an, während Crispina an ihr hochklettert und singt: »Der Botschafter kommt und wippt ganz fidel! Der Botschafter kommt auf seinem Kamel …«
Stella fürchtet die Kinder, und zu Recht. Auch ich stelle erstaunt fest, daß ich vor ihrem Urteil Angst habe. Aber tief im Innern höre ich, wie Gaia mir zuflüstert: »Laß dich auf keine Diskussion ein! Tu, was dein Gewissen dir rät.« Niemals hätte ich mir träumen lassen, daß das Alter die Furcht vor der Jugend mit sich bringt. War diese Furcht in mir vielleicht ein Anzeichen, daß ich alt wurde? Wann ging es los? Zu viele Probleme wirbeln mir durch den Kopf unter Jacopos Geschrei und Gelächter, der nun vom Lehrer zum Kind wird und hinter Crispina her
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