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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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durch das Zimmer läuft … Sie spielen Indianer.
    Und ich dachte darüber nach, während ich mit Stella über die prächtige, vereiste Klinikallee spazierte oder mit ihr durch die sanften Gäßchen des geruchlosen und funkelnden Örtchens lief, mit seinen kleinen Geschäften wie im Spielzeugladen … Und ich hätte es herausgefunden, sicher hätte ich es herausgefunden, wenn Stella nicht bei der Geburt dieses kleinen Häufleins Mensch, das ich nun in den Armen halte, gestorben wäre – klein, und doch zu groß für ihr schwaches Herz: »Dabei haben wir sofort eingegriffen! … Zu groß, Fürstin, fast vier Kilo … Schwaches Herz!« wiederholt der Arzt.
    Ein Mädchenherz, ein altmodisches Herz, das sich unter der Schande krümmt, füge ich innerlich hinzu. Sicher, die Kinder, die ich sofort brieflich benachrichtigt hatte – vier behutsame, aber deutliche Briefe –, hatten sofort mit guten Worten geantwortet. Und ’Ntoni, der in seinem Glück schwelgte, die Zulassung zur Königlichen Akademie der Dramatischen Künste samt Stipendium bekommen zu haben: »Stell dir nur vor, Modesta, achthundert Lire im Monat! Ich bin unabhängig!«, hatte sogar darüber gescherzt und gesagt, daß das einzig Dumme sei, daß es seine Eifersucht auf Prando weiter anfachen würde, der – verfluchter Bursche! – immer die Herzen der schönsten Frauen eroberte … Doch sie selbst, Stella, wie empfand sie tief im Innern an jenem Morgen die Antworten der Kinder, die sie zu hören bekam? Sie, die weder lesen noch schreiben konnte?
    Der schreckliche Zweifel, allein die Schande könne sie umgebracht haben, überkam mich mit solcher Gewalt, daß ich monatelang nicht an mich selbst denken konnte und nicht an das Neugeborene, das Bambolina nach ihrem Vater Carlo genannt hatte und an das sie niemand anderen heranließ … Worüber reden sie da, versammelt um den großen ovalen Tisch ihrer Kindheit, der im Glanz der Lichter, Gläser und Blumen erstrahlt? Ach, ja! Nach sechs Monaten der Trauer um Stella hat Bambolina beschlossen, Carlos Ankunft unter uns mit einem Fest zu feiern … Auch ’Ntoni ist gekommen, um seinem Brüderchen die Ehre zu erweisen, und wie immer führt er als Hauptdarsteller das große Wort: »Das ist kein Fest, meine kleine Bambuccia, das ist ein Festschmaus! In Rom kommt man um vor Hunger. Um euch die Wahrheit zu sagen: Ich kam gar nicht vornehmlich wegen Carluzzo, sondern vor allem, um mich durchzufressenwie man so schön sagt … Die Akademie ist ein wahres Zentrum des faschistischen Widerstands … Dort sind ganz unglaubliche Leute, angefangen beim Direktor Silvio D’Amico bis hin zu Vito Pandolfi, den Da Venezia … Endlich habe ich deinen Jose kennengelernt, Modesta, und ich hielt ihn immer für eine Erfindung. Ein wahrer Held. Er hat mich besucht, und ich soll dich von ihm grüßen. Er ist inkognito von Paris heruntergekommen, um Kontakt zu den Arbeitern in Turin zu knüpfen.«
    Warum schreien sie alle so? Ich werde Jose nicht wiedersehen. Oder ist es ’Ntoni, den ich nicht wiedersehen werde? Stella fehlt mir so, und ich bin müde … Meine Stella, zu unserer Zeit sprach man am Tisch leiser, die Kerzen machten keinen Lärm, sie warfen ihren milden, respektvollen Schein auf die Speisen … Die Lichter knistern im Gehirn, am anderen Ende des Salons läuft das Radio, keiner hört zu, das Telefon klingelt. Vielleicht weitere Gäste … Ein Flugzeug brummt über dem Haus, seit einigen Nächten umkreist dieses Geisterflugzeug immer zur selben Stunde das Haus, und sie hören es nicht. Oder werde ich alt? Wie beginnt das Alter? Mit Kratzern, die spitze Geräusche im Kopf hinterlassen? Die Alten schließen hin und wieder die Augen, vielleicht um Geräusche und Lichter auszuschalten, die zu laut und grell sind für ihre ermatteten Sinne. Wie klingt das Wort Alter? Es hat einen süßen Klang, dieses vielgefürchtete Wort, einen beruhigenden Klang. Sich gehenlassen und in den Falten dieses emotionslosen Klangs verschwinden?
    Flucht vor dem Alter die Treppe hinauf, langsam: eine langsame Flucht in die Stille dieses einen Wortes, sich ins Zimmer einschließen und nicht mehr zuhören. Die Tür schwingt in den gut geölten Angeln und offenbart einendunklen, bodenlosen Schacht. Ich muß springen! Um ans Licht zu kommen, muß ich erneut auf den alten, verwitterten Brunnenrand steigen und mich fallen lassen, doch die Angst packt mich wie damals. In dem aufgeräumten Zimmer gibt es keine Bäume, hinter denen Mimmo Wache halten

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