Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Hasenfuß-Gott, Nina? Das ist neu.«
»Nein, Kleines, so alt wie die Achter-Madonna.«
»Wie, Achter?«
»Acht, wie die Zahl. Oder die Hupfdohlen-Jungfrau, wenn du willst, oder der Seiltänzer-Gott, ganz nach Belieben.«
»Ich muß lachen, Nina, woher hast du das, denkst du dir das aus?«
»Ausdenken? Schön wär’s! Das stammt alles aus dem Familienwortschatz. Es dauert Jahrhunderte, bis ein solcher Grad der Verfeinerung erreicht ist. Mein Großvater, ein Vollblut-Viareggianer, versüßte sich sein Greisenalter damit, die verschiedenen Flüche zu sammeln und zu ordnen. ›Jetzt, wo es endlich ein geeintes Italien gibt‹, sagte er, ›und der Parasiten-Papst verjagt wurde, ist es unsere Pflicht, diese Ausdrücke der Auflehnung zu sammeln, die im unterdrückten Volk entstanden sind …‹ Aber ja, wie Volkslieder oder Volksdichtung: Kulturerbe, meinte er. Armer Großvater! Er war einfach unerschütterlich. Nur zweimal habe ich ihn weinen sehen: beim Konkordat und wegen Sacco und Vanzetti.«
»Um Himmels willen, Nina, fang nicht mit Sacco und Vanzetti an!«
»Aber wenn die Alliierten siegen, werden wir diese üble Geschichte näher in Augenschein nehmen müssen, meine Mody.«
»Nein, Nina, nein! Sag mir lieber: Gibt es nichts Neues von Arminio?«
»Nichts, weder von Arminio noch von deinem ’Ntoni. Aber immerhin können wir uns über Nachrichten vonJacopo und Prando freuen. Und wenn selbst ich mich damit zufriedengebe, die ich nicht einmal zur Familie gehöre …«
»Du gehörst zur Familie.«
»Wie mir dein Mattia gefällt! Wenn Bambolina nicht wäre, würde ich gerne mal zwei Stündchen mit ihm allein verbringen. Aber auch wenn Nina gerne schwärmt und nichts anbrennen läßt – nie mit Männern, die in festen Händen sind.«
Nina, Nina … die dunkle, räuberische Nina der Insel, die goldene Nina, der Sonnenschein des Carmelo. Endlich kann ich neben ihr herlaufen, mit den Blicken die befreite Harmonie ihrer Glieder genießen, ihren tanzenden Schritt voller Lebensfreude. Jetzt hält sie betroffen inne, sicher will sie mir etwas beichten.
»Ich muß dir etwas gestehen, Kätzchen, gestern abend bin ich wieder in die Falle gegangen, wie man so schön sagt, dieser Bursche gefiel mir gar zu gut und mußte heute morgen wieder abreisen. Tja, jetzt weißt du es, es war gar nicht so übel …«
Bei jedem Bekenntnis treibt mich meine erstaunte Einsicht, gar nicht eifersüchtig zu sein, dankbar in ihre Arme. Wie kann das sein? Wenn ich an Joyce zurückdenke, begreife ich, daß die Eifersucht immer von dem ausgeht, der sich ihrer bedienen will aus dem sinnlosen und tödlichen Hang zur Grausamkeit. Außerdem umschlingen mich ihre Arme nach jeder Beichte mit neuer Wärme.
»Du bist mir nicht böse, oder, Kätzchen? Hab Geduld, so ist Nina nun mal! Ein bißchen wie ein ungezogener Junge, hat Arminio immer gesagt, als ich noch klein war. Wie recht er hatte! Mach dir nichts draus, das sind Nebensächlichkeiten, die meine Zuneigung zu dir nurnoch reiner machen. Mit meinem Mann war es genauso. Wobei er sich allerdings immer ein wenig aufregte …«
»Und tat er es auch?«
»Klar doch, gleiches Recht für alle, oder?«
»Und wenn ich es tue?«
»Gleiches Recht für alle, Kätzchen, keine Sorge. Da kennt Nina nichts.«
»Aber mir genügst du vollkommen.«
»Unsinn! Du weißt es nur nicht besser, dir fehlt die Erfahrung. Du und Bambolina, ihr seid die ersten, die ein wenig Freiheit genießen durften. Wir haben das garantiert, ohne Witz jetzt, von meiner Mutter geerbt, und meine Mutter von meiner Großmutter … Aber vielleicht ist darin auch jeder anders. Gegen die Liebe kann der Verstand nichts ausrichten, über die Liebe läßt sich nicht streiten. Was für schreckliche Momente hat deine Nina erlebt, hin und her gerissen zwischen dir, die du zu sterben schienst, und der Kleinen in der Ferne! Nur Jacopo konnte mich verstehen. Der Junge versteht einfach alles. Wie konnte ich dich zurücklassen, um die Kleine in Rom abzuholen? ›Gut, dann schicken wir eben Pietro‹, hat er gesagt, als sei dies das Normalste auf der Welt. ›Wenn du ihm traust, schreib deiner Schwester einen Brief, und Pietro fährt sie abholen.‹ Was für Momente, mein Kätzchen, mit diesem Riesen, der dir nie ins Gesicht sieht. Ich hatte Vertrauen, aber würde Licia es auch haben? Und so sagte Jacopo, als hätte er meine Gedanken gelesen: ›Also gut, dann fahre ich eben selbst. Warum auch immer, mir vertraut jeder.‹ Warum auch immer, sagt
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