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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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einzige, das du von ihnen lernen kannst. Wir Bauern sind nämlich langsam, aber mit der Kraft unserer Arme und ihrer Flinkheit bleibst du im Sattel wie dein Vater Carmine, dein ganzes Leben lang und das deiner Kinder.‹ Erst jetzt weiß ich, warum es mir solche Freude machte, am Spieltisch zu verlieren. Es war wie ein wohltuender Aderlaß, Mody, der all das schwarze Blut aus meinen verfluchten Tudia-Venen herausspülte.«
    »Ihr Tudias mögt verflucht sein, aber wir Brandiforti nicht! Durch die Erziehung unserer Mutter waren wir auf der Seite der Gerechten, und wir werden diesen Wechsel einlösen, den wir vorher mit dem Antifaschismus und dann mit dem Kampf an der Front und in den Bergen bezahlt haben. Ich weise dich darauf hin, Mattia Tudia, daß man mit Defätismus überhaupt nichts erreicht.«
    »Defätismus ist ein Faschisten-Wort, Prando.«
    »Wir werden ein anderes finden, keine Sorge! Wir finden andere Worte, nicht wahr, Mama? Das wichtigste ist, daß wir handeln. Wie schön du bist, Mama, ich schäme mich, es zu sagen, aber ich hatte Angst, du würdest alt sein bei meiner Rückkehr. Es ist komisch, aber inmitten dieser Hölle war meine einzige Sorge, dich nicht so wiederzufinden, wie ich dich verlassen hatte. Mama, weißt du, wie ich dich von nun an nennen werde und was dir vielleicht hilft, auf ewig jung zu bleiben?«
    »Wie denn, Prando?«
    »Meine Mädchen-Mama … Was für ein merkwürdiges Tier der Mensch doch ist!«
    »Warum, Prando?«
    »Ja wirklich, merkwürdig! Zuerst hatte ich dich ganz für mich allein und verstand dich nicht, dann aus der Ferne habe ich verstanden, wer du warst, und hatte Angst, dich zu verlieren: wie Gewissensbisse, daß ich dich vorher nicht verstanden hatte, als wolle das Schicksal mich für meine Zerstreutheit bestrafen. Nur davor hatte ich Angst, nicht davor, zu töten oder getötet zu werden. Darf ich meinen Kopf auf deine Beine legen, erst dann bin ich sicher, daß ich dich wiedergefunden habe.«
    Kaum bettet er den Kopf in meinen Schoß, überkommt ihn der Schlaf. In seinem unveränderten Gesicht erkenne ich keine Zeichen der Entfernung. Als sei er gerade von einem Motorradausflug zurückgekommen. Nur sein Blick ist klarer und aufmerksamer. Parallel zu der langen, schon verblaßten Wunde auf seiner Wange verläuft nun eine weitere, die noch rot ist. Seine Haut hat den Glanz geschliffener Meereskiesel verloren, doch selbst im Schlaf fühlt sie sich unter meinem Finger glatt und fest an. Warum kann ich mich nicht über seine Rückkehr freuen? Liegt es vielleicht an Großmutter Gaias ewigem Kehrreim? »Der Krieg nimmt immer die Besten …« Oder ist es ’Ntonis Gegenwart, der, in seinen Schmerz verschlossen, wortlos und abwesend durch den Garten streift? Sein gesundeter Körper läßt ihn aus der Ferne wie früher erscheinen, doch sobald man näher kommt, bluten die Augen wie klaffende Wunden.
    Ein Flugzeug legt sich kurz vor die Sonne, und irritiert öffnen sich Prandos Augen:
    »Bist du noch da, Mama? Zum Glück! Ich schlafeimmerzu, wer weiß, warum? Es ist, als bekäme ich nie genug vom Schlaf und … Bist du traurig, Mama? Oh, entschuldige, was bin ich für ein grober Klotz! Dein Prando wird immer ein egoistisches Rindvieh bleiben! Ist es wegen Jacopo? Machst du dir Sorgen um Jacopo? Er wird schon noch heimkehren, Mama, er muß … Er war der Beste von uns.«
    Dieser Satz treibt mich laut weinend in seine Arme. Wenn Jacopo tot ist, füge ich diesen Erinnerungen keine einzige Zeile hinzu und werde für immer schweigen.

86
    Und wie in jenem fernen Jahr 1945 das Schweigen über die knappen Notizen meines Lebens fiel, verstumme ich erneut, während ich schreibe, und suche bang zwischen den Blättern nach Jacopos Namen. Ich fürchte, das Datum seiner Rückkehr verloren zu haben.
    Das Warten macht taub, zerstreut … Hier, 6. August 1945, Hiroshima. An jenem Tag kehrte Jacopo zurück, offensichtlich habe ich deshalb kein Datum notiert, die Atombombe hatte es fertiggebracht, selbst mich abzulenken. Eine Bombe, aber mächtiger als alle anderen, hieß es, so mächtig, daß man später einen Badeanzug »Bikini« taufte und von der Natur besonders üppig ausgestatteten Damen einen Atombusen bescheinigte.
    Ich schließe die Augen und lausche auf die Erinnerung an jenes Warten, in dem die Sekunden, die Minuten zu einem einzigen dunklen Klang verschwimmen. Ich merke nicht einmal, daß ’Ntoni mir am Strand der Villa Suvarita entgegenkommt … Von weitem sieht er aus wie viele Jahre

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