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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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rauche eine Zigarette, als ich auf ein hinterlistiges Rascheln hinter dem Lattenzaun automatisch den Gewehrlauf hebe.
    »Scheint mein verfluchtes Schicksal zu sein! Wo ich auch hinkomme, richten sich die Gewehre auf mich. O Mody, ist das eine Art, mich willkommen zu heißen?«
    »’Ntoni!« höre ich mich schreien. »Aber was suchst du denn auch hinter dem Zaun?«
    »Ich wollte nur ein wenig verschnaufen, bevor ich mich euch zeige. Unterwegs hatte ich soviel Mut! Aber kaum sah ich das Haus, schämte ich mich, euch so unter dieAugen zu treten … Wer weiß, vielleicht hoffte ich, nach einer kurzen Ruhepause anständiger auszusehen.«
    »Was redest du denn da, ’Ntoni? Komm her, wo willst du hin?«
    »Aber ich habe sogar Läuse! Sie geben keine Ruhe, Mody, sie quälen mich!«
    ’Ntoni rennt davon, wahrscheinlich hat er den Schrekken bemerkt, der mich ergriffen hat, ich muß verrückt sein! Was habe ich denn erwartet? Daß sie heimkehren, wie sie gegangen sind? Ich darf vor seinem Äußeren nicht erschrecken, es ist ’Ntoni, es ist seine Stimme! Ich laufe hinter ihm her und packe ihn an den Armen. Er ist nicht weit gegangen, hat nicht die Kraft dazu, es reicht, ihn zu berühren, schon fällt er mir weinend in die Arme.
    »O Modesta, endlich umarmst du mich! All die Zeit ohne den Anblick einer Frau, ohne die Umarmung einer Frau. Kein Mann hält es aus ohne Zärtlichkeiten, keiner!«
    ’Ntoni zittert in meinen Armen wie damals als Kind, wenn er in Stellas Armen zitterte. Nichts kann ihn wärmen, weder das heiße Bad noch eine Tasse Kamillentee mit Honig. »Wenn dieser Junge sich erkältet, wird er ganz dünn, als fräße das Zittern ihn geradezu auf … genau wie sein Vater!«
    ’Ntoni wird unter den Decken mit jedem Tag dünner. Und wenn es Nacht wird, beschwört die Kälte in seinem Geist grausame Szenen einer Vergangenheit herauf, die nur er kennt, die ihn zwingt, Befehle zu brüllen, Flüche, deutsche Wörter … Diese Worte ziehen eine eisige Grenze zwischen ihn und uns, die machtlosen Zuschauer seines Kampfes.
    Bambú: »O Tante, es ist schrecklich! Er hat eine Narbe, wo die wohl herkommt? Und du, Antonio, was bist du für ein Arzt? Was sagst du dazu?«
    Antonio: »Das kann niemand wissen, oder besser gesagt, jeder weiß es: Folter, Experimente … Das habe ich von anderen gehört, doch nur er wird es uns genau sagen können.«
    Bambú: »Sieh nur, an der Hüfte auch! Ich habe den Eindruck, daß er seine Beine nicht richtig bewegen kann.«
    Antonio: »Nein, nein, Bambolina, gelähmt ist er nicht, und die Narben sind schon lange verheilt. Er ist nur stark unterernährt, und das hilft ihm nicht gerade. Die physischen Wunden verheilen schnell, aber nicht die Wunden der Erinnerung! Weine nicht, Bambú, das wichtigste ist … na ja, das wichtigste ist, daß er nicht … kurz, daß er noch ein Mann ist.«
    Bambú: »Gestern hat er nach Stella gefragt. Er scheint es vergessen zu haben.«
    Antonio: »Das ist möglich. Wahrscheinlich erträgt sein Organismus diesen weiteren Schmerz nicht und hat ihn deshalb verdrängt. Besser so!«
    Bambú: »Ich habe Angst, Antonio, Angst. Und Prando, Jacopo, warum kommen sie nicht zurück? So viele sind heimgekehrt …«
    Antonio: »Ganz ruhig, Bambú, versuche, ruhig zu bleiben wie Nina. Auch sie wartet. Es müssen noch viele zurückkehren. Ich habe unten bei der Gemeinde die Zahlen erfragt, es gibt noch Hoffnung.«
    Bambú: »O Antonio, wir dachten, es sei alles zu Ende!«
    Antonio: »Der Krieg kommt schnell und geht langsam. Italien ist ein Trümmerhaufen, die Felder noch voller Minen. In Mailand geben sie eineinhalb Kilo Kohlen pro Kopf aus, zweimal im Monat. In Mailand haben sie es diesen Winter warm, Bambú, inmitten bewaffneter Banden,die alles plündern. In Neapel haben Kinderbanden, eine davon mit mehr als neunzig Kindern, einen Zug überfallen, der älteste Junge war siebzehn.«
    Bambú: »Ich habe Angst, größere Angst als zu Kriegszeiten. Das Haus wirkt so leer, seit Prando weg ist, und Modesta spricht nicht, lacht nicht, geht nach Catania und kehrt immer trauriger zurück.«
    Bambolina redet, als sei ich nicht da, und sie hat recht. Abends sitze ich mit ihnen am Tisch und führe mein Essen an den Mund, ich kann nicht sprechen, mein Geist ist voll von dieser einen großen Enttäuschung, von den Männern in Palermo und Catania, die mich mit offenen Armen empfangen, während sie sich um die alten Schreibtische der Macht drängeln: die gleichen Gesten, nur ein klein wenig

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