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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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abzuwarten.
    Aber merkwürdigerweise, vielleicht, weil ich mich daran gewöhnt hatte, wenig oder gar nicht zu schlafen, oder aus Angst, daß das Geländer ersetzt würde, konnte ich kein Auge mehr zutun. Ich schlief zwar ein, wachte aber sofort wieder auf mit der fixen Idee, das Geländer beobachten zu müssen. Das schöne Wetter blieb aus. Inzwischen regnete es auch tagsüber.
    »Was für eine Schande, Principessa, gerade dieses Jahr, wo die Natur eine reiche Ernte versprochen hat! Seit Menschengedenken hat es in dieser Gegend kein so schlechtes Wetter mehr gegeben. Der ganze Segen Gottes, der Weizen und das Heu, verdirbt, wenn es so weitergeht.«
    Gemeinsam mit Mimmo betete ich um schönes Wetter, denn auch mein Weizenkorn ging nicht auf und mein Heu verfaulte, wenn sich nichts änderte.
    Es war nichts zu machen. Nachts weinte ich, an die Gitterstäbe geklammert, fast vor Wut. Es zeigte sich kein Stern am Himmel, und kein Windhauch bewegte diese dunkle, undurchdringliche Masse. Erschöpft warf ich mich aufs Bett. Dann sollte doch alles verfaulen, Weizen, Roggen und Heu. Diese Nacht würde ich schlafen. Ich konnte nicht mehr. Und ich schlief so tief und fest, daß mich, wie sie mir hinterher erzählten, nur die Ohrfeigen von Schwester Costanza – die ließ auch keine Gelegenheit aus – zu wecken vermochten. Schreie, Weinen, zuschlagende Türen zum Geläut einer wild gewordenenGlocke ließen mich erschrocken aus dem Bett fahren. Ein Erdbeben, schoß es mir durch den Kopf.
    »Schlimmer, meine Tochter! Viel schlimmer! Komm schnell in die Kapelle, nur du fehlst. Wir sind alle in der Kapelle und beten. Madre Leonora ist vom Turm gestürzt! Wer hätte das ahnen können?«
    Noch nie hatte ich so viel Freude in der schmerzerfüllten Stimme von Schwester Costanza gehört.
    »Wer hätte ahnen können, daß sie auf ihre Sternwarte steigen würde! Die ganze Nacht hat es nur geblitzt und gedonnert. Wer hätte das ahnen können! Komm, steh auf, komm! Mimmo hat sie so gut hingelegt, wie er konnte, er war es, der den Schrei gehört hat. Komm in die Kapelle, um sie ein letztes Mal zu sehen und bei ihr zu wachen!«
    Wachen, ich? Die ganze Nacht und vielleicht auch noch den folgenden Morgen, bei dem Schlafmangel, den ich schon hatte? Ich dachte gar nicht daran.
    »Auf, meine Tochter, komm zu dir. Sicher, ich verstehe deine Verfassung, du bist diejenige, die dieses Unglück am schwersten trifft. So ergeben, wie du ihr warst, und so gern, wie sie dich hatte! Aber sei tapfer, und nimm diese schwere Prüfung an, die Gott dir gesandt hat.«
    Wenn ich also diejenige war, die das Unglück am schwersten traf, konnte ich durchaus vor Schmerz ohnmächtig werden und mich so der Prüfung entziehen, die sie mir auferlegen wollten. »Und wie ein Leichnam hinfällt, fiel ich hin«, wie Dante, der Dichter und Kenner des Lebens sagt. Keinem gelang es, mich zu wecken, weder in dieser Nacht noch am nächsten Morgen.

18
    Ich erwachte erst, als sich die harte Masse, zu der mein Darm in den ersten vierundzwanzig Stunden geronnen war, in viele glühende Tentakel verwandelte und meine Zunge – vorher hatte ich gar nicht gewußt, daß ich eine Zunge besaß – so geschwollen und ausgetrocknet war, daß mir die Krankenschwester nur mit Mühe eine lauwarme, duftende Flüssigkeit einflößen konnte.
    »Das arme Mädchen! Wie sehr sie leidet! Schaut nur, wie sehr sie leidet! Drei Tage, ohne zu essen und zu trinken! Und immer noch spuckt sie die paar Tropfen Brühe aus!«
    Es war gar nicht so, daß ich die Brühe ausspuckte, im Gegenteil, sie schmeckte mir. Aber meine Zunge gehorchte mir nicht mehr. Vielleicht hatte ich zu viele von diesen Pillen geschluckt? Ich will euch das erklären: Um so lange schlafen zu können, hatte ich während der drei Tage immer abends und morgens von diesen Schlaftabletten genommen, die mir der Arzt vor einiger Zeit einmal verordnet hatte. Sie hießen Veronal, und er hatte mir jeden Abend eine zur Beruhigung gegeben. Damals hatte ich sie trotz der Angst nie geschluckt und sie für eine Zeit aufgehoben, in der ich sie vielleicht einmal gebrauchen könnte. Und ich hatte gut daran getan, denn sie hatten mir das letzte Treffen mit Madre Leonora erspart und, wie ich jetzt erfuhr, auch die Beerdigung. Sie waren mir nützlich gewesen, aber die Furcht, zu viele davon genommen zu haben – der Arzt hatte mir gesagt, daß sie schädlich sein konnten –, quälte mich so, daß ich nicht anders konnte, als zu fragen: Muß ich

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