Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
sterben?
»Nein, meine Tochter, sprich das Wort nicht mehr aus. Du hast es die gesamten drei Tage immer wiederholt. DerArzt hat dich untersucht. Dir fehlt nichts. Nur der Lebenswille und etwas Nahrung, so hat er gesagt, und man könne lediglich hoffen, daß du deine Trauer überwindest. Doch wenn du jetzt Angst hast, so heißt das, daß dein Lebenswille zurückgekehrt ist. Iß, meine Tochter, und bete. Sterben zu wollen ist eine furchtbare Sünde. Madre Leonora würde das sehr schmerzen. Denk an sie, und versuche stark zu sein. Wie schade, daß du sie nicht gesehen hast. Ihr Körper war zwar zerschmettert, aber das Gesicht ist unversehrt geblieben, schön und heiter. Das Gesicht einer Heiligen.«
Wenn ein Arzt – wer wußte, wer dieser neue Arzt war? – gesagt hatte, daß mir nichts fehlte, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen und konnte diese wohltuende Brühe schlucken, die sich wie flüssige Sonnenstrahlen in meinem Magen ausbreitete.
»So ist’s brav, Modesta! So machst du Madre Leonora glücklich und nicht, indem du den Tod herbeisehnst, wie in den vergangenen Tagen! So wollte dich Madre Leonora haben. Iß, iß, enttäusche sie nicht jetzt, wo sie tot ist, so wie du sie nicht enttäuscht hättest, als sie noch lebte.«
Um Madre Leonora nicht zu enttäuschen, aß ich in wenigen Tagen so viel, daß ich bald wieder auf den Beinen war und imstande, der krächzenden Stimme von Schwester Costanza zu lauschen ohne allzu große Angst vor dem Koffer – immer dieser Koffer –, den sie mir aufs Bett gelegt hatte, als sie in meine Zelle kam.
»Pack deine Sachen zusammen, Modesta. Du darfst auch den kostbaren Rosenkranz, das kleine Bild der heiligen Agate und die Bücher mitnehmen, die dir Madre Leonora in ihrer unendlichen Güte geschenkt hat, deine Leibwäsche und die Binden. Denk an die Binden, schnüre dir weiter die Brust ein, auch wenn du dort, wodu hingehst, allen Verlockungen der Welt ausgesetzt sein wirst.«
Ich wagte es nicht, sie um eine Erklärung zu bitten oder den Blick von dem Koffer zu nehmen, auf dem bereits einige kleine Wanzen, von Schwester Costanza heraufbeschworen, begannen, das hellbraune Leder mit schwarze Punkten zu übersäen.
»Es ist mir nicht erlaubt, weltliche Namen und Orte zu nennen, weil wir nicht mehr zu jener Welt gehören. Aber du kannst beruhigt sein, denn Madre Leonora hat für dich gesorgt. In ihrer Großherzigkeit wollte sie, daß du selbst entscheidest, ob du zur Schar des Herrn gehören willst oder nicht. Und damit du diese Entscheidung bewußt und frei fällen kannst, hat sie außerdem verfügt, daß du zuerst einmal die Welt kennenlernen sollst. Ich habe genug gesagt. Heute nachmittag wirst du abgeholt … Ich sehe deine Verwirrung, meine Tochter, auch ich bin damit nicht einverstanden, denn der Herr hat dich hierhergeschickt, als du nichts weiter warst als ein weidwundes und erschrockenes kleines Tier, und hier ist dein Platz. Aber so steht es nun einmal in ihrem Testament, und so muß es geschehen. Gehe in Frieden, meine Seele ist ruhig, denn ich weiß, daß wir uns wiedersehen.«
Was mich verwirrte, war das Unbekannte, das sich hinter jedem Wort von Schwester Costanza verbarg, und die Sanftheit, die jetzt in ihrer Stimme lag. Ich entschloß mich, sie anzusehen, und wäre beinahe wirklich ohnmächtig geworden. Sie war fast schön. Irgend etwas hatte sie aufgerichtet, und sie lächelte, während ihr Blick leicht durch das Zimmer wanderte. Sie träumte von Madre Leonoras Stuhl, und es war die Lehne dieses Eichenstuhls, die sie aufrichtete. Beinahe tat es mir leid, daß ich es gewesen war, die ihr dieses Glück beschert hatte. Aber jetztwar keine Zeit mehr, zu bedauern. Ich mußte mich beeilen. Von dem Gedanken an das Unbekannte gequält, begann ich, meine Sachen zusammenzupacken … Denk an die Binden, schnüre dir weiterhin die Brust ein … Verlockungen … wo du hingehst … Dieses »wo du hingehst« ließ meine Hände zittern, und alles fiel mir zu Boden. Ich fand nichts, die Binden rutschten mir aus den Fingern und entrollten sich zwischen den Beinen des Bettes bis in die Ecken des Zimmers, und ich mußte noch einmal von vorn anfangen. Der Koffer war zu klein und ließ sich nicht schließen. Ich schwitzte und schaffte es erst, als ich mich darauf kniete. Lag es nun an der Anstrengung oder an dem strahlenden Gesicht von Schwester Costanza, das mich wirklich wütend gemacht hatte? Jedenfalls, wie ich da auf dem Koffer saß und Madre Leonora anflehte, mir
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