Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
Vom Netzwerk:
ihn sacht herabfallen: den sanften Aprilregen zwischen den Brüsten, die Beine gespreizt, um diese Frühlingsfrische zu empfangen. Ich hatte meinen Körper wiedergefunden. In all den Monaten des Exils, in denen ich in diesen Harnisch aus Schmerz eingeschlossen gewesen war, hatte ich mich nicht mehr gestreichelt. Blind vor Schrecken, hatte ich vergessen, daß ich einen Busen, einen Leib und Beine hatte. Also waren Schmerz, Demütigung und Angst nicht, wie sie immer sagten, ein Quell der Reinigung und der Seligkeit, sondern schleimige Diebe, die nachts, während ich schlief, auf mein Kopfkissen glitten, um mir die Freude am Leben zu stehlen. Diese Frauen machten kein Geräusch, wenn sie an einem vorbeigingen oder ihre Zellen betraten oder verließen: Sie hatten keinen Körper. Ich wollte nicht durchsichtig werden wie sie. Und jetzt, da ich die Intensität meines Vergnügens wiedergefunden hatte, würde ich mich nie wieder auf den Verzicht und die Demütigung einlassen, die sie so sehr predigten. Ich hatte jenes Wort als Waffe, um zu kämpfen. Und als »Leibesübung«, wie ich es inzwischen nannte, wiederholte ich in der Kapelle mit dem Rosenkranz zwischen den Fingern:Ich hasse. Unter dem erloschenen Blick von Schwester Angelica wiederholte ich, über den Stickrahmen gebeugt: Ich hasse. Abends vor dem Einschlafen: Ich hasse. Seit jenem Tag war das mein neues Gebet.
    Und während ich betete, lernte ich. Ich suchte in den Büchern nach der Bedeutung dieses Wortes. Aber mehr als den Zorn Gottes und den Neid Luzifers fand ich nicht. Vielleicht hatten die wahren Hasser der Kirche andere Bücher. Mimmo hatte von ihnen voller Respekt und Furcht gesprochen:
    »Ich bin zwar nicht ihrer Meinung, aber ich muß zugeben, daß Giovanni, seit er mit diesen Leuten zu tun hat, ein anderer zu sein scheint: heiter, voller Kraft …«
    Also waren auch sie kraft ihres Hasses glücklich. Wie konnte ich sie nur kennenlernen? Der Arzt war einer von ihnen gewesen, aber damals war ich noch ein Kind. Was hatte ich schon davon verstanden? Jetzt war er nicht mehr da, schade! Ich fand mich damit ab, nichts darüber erfahren zu können. Aber wenn ich weiterhin mit diesem Haß im Körper studierte, der sättigender war als Brot und mir die Kraft gab, Tag und Nacht über meinen Büchern zu sitzen – alle im Kloster bewunderten das –, würde ich vielleicht Lehrerin werden können. Wie man hörte, gab es inzwischen auf dem Festland auch Frauen, die unterrichteten. Und als Lehrerin würde ich ihnen sicher begegnen. Und außerdem hatte Madre Leonora mich in ihrem Testament bedacht … Ich mußte nur Geduld haben, denn Madre Leonora war von einem unheilbaren Leiden befallen. Noch ein oder zwei Jahre, und ich wäre frei. Doch auch Madre Leonoras Schmerz mußte ungeheure magische Kräfte haben, weil sie trotz ihrer Krankheit jeden Tag voller und aufrechter wirkte … und einen Atem hatte! Von wegen krank auf der Brust, sieredete ständig. Und ihre Worte waren nicht demütig wie vorher, sondern heimtückisch, entschieden, unanfechtbar. Hört nur:
    »Modesta, ich bin dem Tod geweiht. Der Arzt hat mir noch höchstens fünf oder sechs Jahre gegeben. Aber ich danke dem Allmächtigen für diese Jahre, die er mir zugesteht, weil ich weiß, daß sie reichen werden, um dich zu formen und in deiner Seele die Berufung aufblühen zu lassen, die du, das fühle ich, wie ein Kleinod im Busen trägst. Ich werde erst die Augen schließen, wenn ich dich in dem Gewand sehe, das auch ich trage. Denn du sollst wissen, daß du nach meinem Tod auch meine gesamte Aussteuer als Braut Christi erbst. Eine wertvolle Aussteuer, die dir, als wär’s ein Zeichen Gottes, perfekt paßt. Als ich so alt war wie du, hatte ich auch deine Statur.«
    Habt ihr gehört? Hört weiter:
    »Hab keine Angst, Modesta. Du hast Angst, weil du noch nicht die paradiesische Süße des Verzichts und der Demut kennst. Dein junger Körper sprüht vor animalischer Vitalität und Gesundheit. Übrigens habe ich darüber mit Schwester Costanza gesprochen, du tätest uns einen Gefallen, wenn du etwas weniger essen würdest, zumindest abends. Du bist ja inzwischen erwachsen und gesund. Ein wenig Verzicht bei Tisch kann dir beim Gebet nur helfen. Ab morgen bekommst du abends nur Brot und Milch wie die Laienschwestern. Aber, wie schon gesagt, hab keine Angst. Ich will dich nicht zwingen, und um dir das zu beweisen, möchte ich, daß du die Abschrift meines Testaments liest. Das Original ist bei einem Notar in Modica

Weitere Kostenlose Bücher