Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
hinterlegt, sicherheitshalber … Siehst du? Hier steht, daß du diese Pension auch dann bekommen sollst, wenn Gott dir nicht die Gnade zuteil werden läßt, dich in seine Schar aufzunehmen. Und meinWunsch, nur das zu tun, was auch du willst, ist so aufrichtig, daß meinem Testament, wie du siehst, ein von einem Arzt unterzeichnetes Dokument beiliegt, auf dem bestätigt wird, daß du deine Jungfräulichkeit aus Gründen … Aber lassen wir das. Ich will dich nicht an all diese schlimmen Dinge, die Höllenqualen erinnern. Wichtig ist, daß dir dieses Dokument helfen wird, falls du nach meinem Tod in die Welt hinausgehen willst. Denn kein Mann, das mußt du wissen, nimmt ein Mädchen zur Braut, ohne sicher zu sein, daß sie körperlich und geistig unversehrt ist.«
Und so ging es tage- und monatelang. Hört nur, auch wenn ihr keine Lust mehr dazu habt:
»Hab keine Furcht, diese Dokumente sind der Beweis, daß ich dich zu nichts zwingen will und daß du nur dann, wenn du wirklich willst, die Gelübde ablegen sollst, ob ich nun noch lebe oder nicht. Aber ich weiß auch, daß Gott mich nicht zu sich rufen wird, ehe ich diese Mission erfüllt habe. Vielleicht haben all meine Leiden nur das eine Ziel: dich zu Ihm zu führen.«
Ob es nun an diesem steten Tropfen oder an dem Abendessen aus Brot und Milch lag, von dem ich morgens hungrig und müde aufwachte, die Wirkung des Hasses ließ nach. Der Arzt hatte ihr noch mindestens fünf oder sechs Jahre gegeben. Und wenn dieser Schmerz, der sie beherrschte, so stark war, daß er sie wirklich noch bis zur Erfüllung ihrer Mission am Leben hielte? Nein! Das waren zu viele Jahre, auch wenn ich mir inzwischen die Kraft des Hasses und die List der Vorsicht erobert hatte. Gerade aufgrund dieser Errungenschaften erkannte ich jetzt die Schwäche meiner Natur und die aller anderen. Ich fürchtete, daß es mir nicht gelingen würde, diese ganze Zeit zu lügen. Nein! Auch nur fünf oder sechs Jahre warenzuviel. Ich mußte entweder fliehen oder das Glück haben, daß ihr Gott sie so schnell wie möglich zu sich rief.
16
Aber an Flucht war nicht einmal zu denken. Wohin hätte sie auch gehen sollen? Selbst wenn man es schaffte, was gar nicht so einfach war, über die Lavamauern zu klettern, die das Kloster umgaben, mußte man noch, das hatte ihr Mimmo gesagt, fünf oder sechs Stunden zu Fuß gehen, um in dieses Dorf zu gelangen … wie hieß es noch? Mit Schrecken stellte sie fest, daß sie in all diesen Jahren zwar Latein und Französisch gelernt, aber nie mit jemand anderem gesprochen hatte als mit Nonnen und Priestern. Sie spürte, daß deren Sprache sich von der unterscheiden mußte, die draußen gesprochen wurde, draußen in der Welt. Mit Mimmo war das etwas anderes. Er gehörte wohl oder übel zum Kloster.
Als ihr all das klar wurde, verschwand der Haß und machte einer Erschöpfung Platz, die sich über ihre Brust bis in die Arme ausbreitete und sie zwang, sich auf die von der Sonne aufgewärmte Bank zu legen. Hatte der Haß sie wirklich verlassen? Und selbst wenn sie träumen wollte wie in den Romanen, würde sie, wenn sie einmal das Dorf erreichte, den Carabinieri entkommen? Würde sie eine Anstellung als Dienstmädchen finden – wie reizend sie mit Schürze und dem weißen Spitzenhäubchen aussähe –, in einer Familie, wo sie einen Offizier, einen Freund des Hauses kennenlernen könnte oder eigentlich, warum nicht, den Sohn des Hauses selbst, der ihr, von ihrer Anmut verzaubert, einen Heiratsantrag machen würde? Wo hatte sie all das gelesen? Ach ja, es war dieseJammertrine von Annina, die sich dauernd Strafen aufhalste, weil sie solchen Schund las. Aber selbst wenn ihr der Offizier wirklich einen Antrag machte, könnte sie ihn nicht heiraten. Männer heiraten keine Frauen, die ihre Jungfräulichkeit verloren haben. Ich war Madre Leonora ausgeliefert, es gab kein Entrinnen; wenn ich wenigstens das Dokument gehabt hätte! Und außerdem würde ich durch eine Flucht die Erbschaft verlieren, die ich mir so mühsam verdient hatte. Vielleicht war es besser zu bleiben. Im Grunde genommen war Madre Leonora ein guter Mensch, sie hatte mir vergeben. Und vielleicht würde sie mit der Zeit wieder so sanft werden wie früher … Zwischen dem Weinlaub erschien mir unscharf gegen den Himmel ihr Gesicht …
»Man gibt sich nicht so den Verlockungen der Sonne hin, Principessa, arm zu sein ist ein Gift, das schwächt. Der Hunger vernebelt einem das Gehirn. Darin muß ich Giovanni recht geben.
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